Nur einen Horizont entfernt. Roman by Lori Nelson Spielman

Autor:Lori Nelson Spielman [Nelson Spielman, Lori]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104034072
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-04-28T16:00:00+00:00

20

Es geschah im Juli 1993. Ich tat es impulsiv, ohne Vorsatz, einfach so. Zumindest das kann ich mit Sicherheit sagen.

Wir waren in den Norden gefahren, so nennt man das in Michigan, wenn man in die Fingerspitzen des Handschuhstaats fährt. Bob hatte ein kleines Holzhaus in Harbour Cove, einem verschlafenen alten Fischernest am Ufer des Lake Michigan. Das Häuschen war Meilen von der Stadt entfernt, es lag an einem trüben See, in dem man nur angeln konnte, nicht schwimmen. Bob konnte nicht ganz bei Trost sein, wenn er glaubte, dass jemand den Sommer im abgelegensten Winkel der Welt verbringen wollte – schon gar kein dreizehnjähriges Mädchen. Nur Tracy, das zehnjährige Mädchen von nebenan, war halbwegs in meinem Alter.

Seit drei Tagen war es unglaublich schwül, eine Rekordhitze, gegen die selbst die Klimaanlagen machtlos waren. Bob und meine Mutter waren ins Kino gegangen, wollten sich Schlaflos in Seattle ansehen. Bob hatte mich eingeladen, mitzukommen, mich beinahe angefleht. »Komm, Schwester, ich gebe dir auch eine Tüte Popcorn aus. Was soll’s, ich leg noch ’ne Packung Minztäfelchen drauf!«

»Ich hasse Minztäfelchen«, sagte ich, ohne von meiner Mädchenzeitschrift hochzuschauen.

Er tat so, als wäre er enttäuscht, doch ich wusste, dass er erleichtert war. Er war so dermaßen falsch und verlogen. Wahrscheinlich wünschte er sich insgeheim, ich würde sterben … oder mich wenigstens nach Atlanta verdrücken.

An dem Abend rief ich meinen Vater an. Bei ihm war es noch eine Stunde früher, er war gerade Golfen gewesen.

»Hey, wie geht’s meinem Mädchen?«

Ich kniff mir in den Nasenrücken. »Du fehlst mir, Dad. Wann können wir nach Atlanta kommen?«

»Wann immer du willst, Süße. Deine Mutter ist am Zug. Das weißt du doch, oder? Ich möchte dich hier bei mir haben und deine Mutter auch. Ich liebe euch beide. Du redest mit ihr, ja?«

Ich wollte ihm von meinem schrecklichen Sommer berichten, doch er unterbrach mich. »Warte mal«, sagte er, legte die Hand aufs Mikrophon und sprach mit jemandem im Hintergrund. Er lachte, dann war er wieder bei mir. »Ruf mich morgen noch mal an, Süße, ja? Dann haben wir Zeit zum Reden.«

Ich legte auf, einsamer als je zuvor. Ich verlor meinen Vater, das spürte ich. Er wirkte distanzierter, nicht mehr so erpicht darauf, dass meine Mum und ich schnell nach Hause kamen. Ich musste etwas tun, damit er uns nicht völlig vergaß.

Ich warf mich aufs Sofa und stellte den Fernseher an. Ich starrte an die Decke, hörte dabei Eine schrecklich nette Familie, Tränen liefen mir über die Schläfen und in die Ohren.

Irgendwann schlief ich ein und schreckte auf, als ich das Auto vorfahren hörte. Ich richtete mich auf und streckte mich. Meine Haut war feucht und klebrig vom Schlaf und der erbarmungslosen Hitze. Im Fernseher lief jetzt Saturday Night Live. Ich entdeckte meinen BH auf der Sofalehne, den ich zuvor ausgezogen hatte, weil er immer so piekte, und stopfte ihn unter ein Sofakissen.

Als meine Mutter und Bob zur Tür hereinkamen, hörte ich sie lachen. Ich hatte keine Zeit mehr, mich in mein Zimmer zu flüchten. Deshalb legte ich mich schnell hin und schloss die Augen.

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