Notizen einer Verlorenen by Vullriede Heike

Notizen einer Verlorenen by Vullriede Heike

Autor:Vullriede, Heike [Vullriede, Heike]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-12-04T05:00:00+00:00


Der Crash

Am Nachmittag stand Marc vor der Tür. Er wollte unbedingt mit mir zu einem leer stehenden Industriegelände fahren, warum auch immer. Das schlechte Gewissen ihm gegenüber bewegte mich dazu, nachzugeben. Vielleicht, ganz vielleicht, wollte ich mich auch um Marcs Leben bemühen.

Marc sprach unterwegs dauernd von einem großen Crash. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er die ganze Zeit über seinen kommenden Tod sprach.

Er wollte möglichst alle Details bei der Ausarbeitung seines Planes berücksichtigen und mit mir gemeinsam den Originalschauplatz seines heldenhaften Finales körperlich erkunden. Seine Wahl war auf ein stadtnahes verlassenes Industriegelände in Essen West gefallen. Während der Fahrt dorthin packte mich immer wieder die Erinnerung an unsere nächtliche Geisterfahrt auf der A40 und vor jeder möglichen Einbiegung auf eine falsche Fahrspur krallte ich mich in den Beifahrersitz, sodass mir ein Fingernagel umknickte. Er parkte den Wagen direkt auf dem Gelände einer ehemaligen Metall verarbeitenden Fabrik. Die Wege waren von Bauschutt übersät. Angefangene und wieder abgebrochene Abrissarbeiten hatten ihre Spuren hinterlassen. Das Gebäude stand noch zum größten Teil, die verbliebenen Fensterscheiben waren zerborsten und die spitzen Zacken der Glasreste gaben dem verlassenen Ort ein noch einsameres Aussehen.

Marc balancierte über das Geröll, das, außer aus den rötlichen Steinbrocken der Außenmauern, auch aus Draht und vor allem Beton bestand. Ich stolperte hinterher. Wir drangen tiefer in das Gelände vor, wo die Abrissarbeiten noch nicht einmal begonnen hatten. Dort fand er Untergrundverhältnisse, die ihm einigermaßen zusagten. Aber so ganz zufrieden war er noch nicht.

»Das braucht tatkräftige Unterstützung«, murmelte er. »An sich ist der Ort geeignet, aber da ist wirklich noch einiges vorzubereiten.«

Ich beobachtete ihn, wie er lange die weit entfernte massive rote Mauer des Gebäudes betrachtete.

»Was hast du eigentlich vor?«

Es überraschte mich selbst, dass ich mich wirklich für sein Befinden interessierte.

Geistesabwesend sah er mich kurz an, dann wanderte sein Blick wieder lange Zeit zu der Mauer des Gebäudes zurück. Schließlich sprach er, ohne mich anzusehen.

»Ich habe das alles schon zig Mal durchgeplant. Ich sehe es vor mir. Wie ich den Autoschlüssel aus dem Innenteil meiner Lederjacke nehme und ihn ein paar Mal um meinen Finger wirbele. Dann steige ich ein – langsam, damit jedem dieser Augenblick in Erinnerung bleibt, in der Gewissheit, mich das letzte Mal lebend gesehen zu haben. Bevor ich losfahre, vergesse ich nicht, das Verdeck zu öffnen. Zündung! Der Wagen springt sauber an, wie immer. Ich achte darauf, dass ich mich nicht anschnalle. Dann lege ich den Gang ein und fahre – rückwärts! Denn ich brauche mehr Schwung. Tags zuvor haben sie mit mir gemeinsam die Distanz ausgemessen, die mindestens nötig sein muss, um zu einem tödlichen Crash an der Mauer zu führen. Sie reicht mir an diesem Tag aber nicht mehr. Ich will vollkommene tödliche Sicherheit. Nach etwa zweihundert Metern – mehr sind örtlich nicht drin – stoppe ich. Durch die Frontscheibe sehe ich die Mauer. Diese Steine werden das Letzte sein, was ich sehe – alte dicke Steine eines verlassenen Industriegebäudes. Ich schalte in den ersten Gang und lasse den Motor aufheulen. Es darf nichts schief gehen.



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