Nasses Grab - Reich, H: Nasses Grab by Helena Reich

Nasses Grab - Reich, H: Nasses Grab by Helena Reich

Autor:Helena Reich [Reich, Helena]
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: PeP eBook
veröffentlicht: 2010-04-03T22:00:00+00:00


David Anděl las zum dritten Mal den Bericht, den Cajtík ihm vor ein paar Minuten auf den Tisch gelegt hatte. Am Ufer der Moldau, in Roztoky, einem Stadtteil im Nordwesten von Prag, hatte ein Spaziergänger ein Bein gefunden. Besser gesagt, sein Hund hatte es im Uferschlamm aufgespürt. Ein Bein. Sonst nichts.

Otakar Nebeský hatte es, nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hatte, ins Gerichtsmedizinische Institut bringen lassen. Antonín Cajthaml hatte gesagt, Jirka Kratochvíl würde es sich heute noch ansehen.

Anděl schüttelte irritiert den Kopf. Kehrten jetzt langsam amerikanische Verhältnisse hier ein? Erst eine Mumie in der Metro, jetzt ein herrenloses Bein am Ufer der Moldau, und nicht zu vergessen – vor zwei Wochen am hellen Nachmittag eine Schießerei in der Nähe des Bahnhofs.

Er hatte das ungute Gefühl, dass dieses Bein herrenlos bleiben würde. Außer irgendein armer Tropf fände irgendwann die dazugehörige Leiche. Wo sollten sie anfangen, nach dem Rest der Bescherung zu suchen? Das halbe Land war abgesoffen bei diesem verdammten Hochwasser. Unzählige Friedhöfe, das eine oder andere Krankenhaus, die eine oder andere Leichenhalle waren entlang der Moldau zerstört oder beschädigt worden. Und dieser Fluss war lang, schlängelte sich vierhundertvierzig Kilometer lang auf seinem Weg in den Norden durch das ganze Land, von seinem Ursprung am Fuß der Šumava, den Bergen des Böhmerwalds im Grenzgebiet zu Österreich, durch Prag bis nach Mělník im Norden, wo er sich mit der kleineren Elbe vereinigte, um über die Grenze nach Deutschland weiterzufließen, Richtung Nordsee.

Eigentlich müsste Hamburg an der Moldau liegen, schweifte Anděl amüsiert ab. Seit seiner Schulzeit, als ihnen der Erdkundelehrer von den Regeln zur Benennung von Flüssen erzählt hatte, fragte er sich, wie es wohl gekommen war, dass in diesem Fall regelwidrig vorgegangen worden war. Normalerweise, hatte sein Lehrer den staunenden Schülern erklärt, wird der Strom, der aus der Verbindung zweier Flüsse entsteht, nach dem größeren der beiden benannt. Die Moldau war größer, länger und führte mehr Wasser als die Elbe. Trotzdem hieß das Ergebnis der Vereinigung in seinem weiteren Verlauf nicht Moldau, sondern Elbe. Eines von vielen Rätseln, dachte Anděl.

Und nun hatten sie dieses Bein am Hals. Er legte den Bericht zur Seite und sah auf seine Uhr. Sein Magen knurrte. Zeit, zum Mittagessen zu gehen. Am späten Nachmittag würde er Jirka anrufen und nach den Ergebnissen der Obduktion fragen. Er stand auf und verließ das Büro.

Draußen schlug ihm die Hitze des Tages entgegen. Es mussten über dreißig Grad sein. Und es war erst Mittag. Der Asphalt auf dem Bürgersteig vor dem Polizeipräsidium war weich von der Glut der Sonne. Anděl dachte an Magdas hohe Sandalen. Wie sie es wohl schaffte, nicht in dieser zähen Masse kleben zu bleiben? Aber dann fiel ihm ein, dass das Gerichtsmedizinische Institut ja in den Weinbergen lag und man dort den hässlichen Asphalt aus sozialistischen Zeiten inzwischen durch die früher üblichen kleinen weißen und grauen Pflastersteine ersetzt hatte. Vom Regen in die Traufe, dachte er und lächelte. Wie oft kam Meda morgens ins Büro und schimpfte, weil ihre Absätze auf dem Weg zur Arbeit mehrfach zwischen den Pflastersteinen stecken geblieben waren.



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