Nahe dem wilden Herzen (German Edition) by Lispector Clarice

Nahe dem wilden Herzen (German Edition) by Lispector Clarice

Autor:Lispector, Clarice [Lispector, Clarice]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Schöffling & Co.
veröffentlicht: 2013-09-02T22:00:00+00:00


DIE ZUFLUCHT BEIM LEHRER

Joana erinnerte sich sehr gut: Tage vor ihrer Hochzeit hatte sie den Lehrer aufgesucht.

Sie hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, ihn zu sehen, ihn unerschütterlich und kühl zu spüren, bevor sie fortging. Denn irgendwie schien es ihr, als verriete sie ihr ganzes vergangenes Leben mit der Heirat. Sie wollte den Lehrer wiedersehen, seine Unterstützung fühlen. Und als ihr die Idee kam, ihn zu besuchen, war sie erleichtert.

Er würde ihr bestimmt die richtigen Worte sagen. Aber welche? Nichts, antwortete sie sich geheimnisvoll, da sie sich in einer plötzlichen Anwandlung von Glauben und hoffnungsvoller Erwartung vorsehen wollte, um ihn ganz neu zu hören, ohne auch nur eine Vorstellung davon zu haben, was sie gewinnen könnte. Es war ihr schon einmal so gegangen: bevor sie als Kind zum ersten Mal einen Zirkus besuchte. Am schönsten war die Vorbereitung darauf. Und als sie sich dem großen Feld näherte, wo das riesige runde Zelt leuchtete wie einer dieser kuppelförmigen Deckel, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das beste Gericht auf dem Tisch verbergen, als sie an der Hand des Dienstmädchens näher kam, empfand sie Angst und Beklemmung und bebende Freude in ihrem Herzen, sie wollte umkehren, weglaufen. In dem Augenblick, als das Mädchen zu ihr sagte: Dein Vater hat mir Geld für Puffmais gegeben, blickte Joana erstaunt um sich. Unter der Mittagssonne schienen die Dinge verrückt geworden zu sein.

Sie wusste, dass der Lehrer erkrankt war, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Aber obwohl er gealtert war, fand sie ihn dicker vor, war sein Blick strahlend. Auch hatte sie zunächst befürchtet, dass die Szene ihres letzten Zusammentreffens, als sie sich erschrocken in die Pubertät geflüchtet hatte, den Besuch belasten und beide in Verlegenheit bringen würde, in demselben eigenartigen, dumpfen Wohnzimmer, wo jetzt der Staub über den Glanz gesiegt hatte.

Der Lehrer hatte sie heiter und etwas zerstreut empfangen. Mit seinen tiefen Schatten unter den Augen glich er einer alten Fotografie. Er stellte Joana Fragen, doch sobald sie zu einer Antwort ansetzte, war er mit seiner Aufmerksamkeit woanders wie jemand, der jetzt endlich von dieser Verpflichtung entbunden war. Mehrmals unterbrach er sich und sah dabei aufmerksam auf die Uhr und den kleinen Tisch mit den Medikamenten. Sie blickte umher, und das Halbdunkel war feucht und erstickend. Der Lehrer war wie ein großer kastrierter Kater, der in seinem Keller herrschte.

»Du kannst jetzt die Fenster öffnen«, sagte er. »Weißt du, ein wenig Dunkelheit und danach reichlich Luft; der ganze Organismus zehrt davon, wird lebendig. Wie bei einem vernachlässigten Kind. Wenn es alles bekommt, reagiert es plötzlich und blüht auf, manchmal mehr als andere.«

Joana riss Türen und Fenster auf, und die kalte Luft drang mit einem heftigen Stoß triumphierend ins Zimmer. Dahinter kam durch die Tür ein wenig Sonne herein. Der Lehrer hatte den Kragen seines Schlafanzugs etwas weiter geöffnet und genoss den Wind.

»So ist das«, erklärte er.

Wie sie ihn so sah, fiel Joana auf, dass er nichts als ein dicker alter Mann in der Sonne war, sein schütteres Haar hielt der Zugluft nicht stand, der schwere Körper lag wie hingeworfen auf dem Stuhl.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.