Nachts, wenn der Tiger kommt by Fiona McFarlane

Autor:Fiona McFarlane [McFarlane, Fiona]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-06-12T22:00:00+00:00

11

In dieser Nacht kam der Tiger zurück, oder was immer es war, was das Geräusch verursachte, das Ruth hörte. Sie lag im Bett und dachte an Richard und wie es wohl wäre, wieder in der Stadt zu leben. Richard wohnte in einem sonnigen, hügeligen Teil Sydneys, nordwestlich des Hafens, wo die Bäume im Herbst ihre Blätter abwarfen und der Feierabendverkehr Lichterspuren durch die breiten abendlichen Straßen zog. Die Gärten dort oben waren voller Rhododendren und Azaleen, als sei das Klima kühler und feuchter als in anderen Teilen der Stadt, und Ruth, die die Gegend nicht sehr gut kannte, dachte dabei an das große, wuchtige Haus der Eltern eines ihrer Schüler, die sie zum Essen eingeladen und sich dann über die Kosten ihrer Stunden gestritten hatten. Ruth dachte auch an Jeffrey, wie jungenhaft er am Telefon geklungen hatte, und wie er gesagt hatte: »Es geht einzig und allein darum, was du willst.« War das möglich? Seit Harrys Tod hatte sie nur selten daran gedacht, etwas zu wollen. Frida war diejenige, die wollte. Sie wollte saubere Fußböden, eine schmalere Taille und andersfarbige Haare. Frida füllte die ganze Welt mit dem, was sie wollte. Und Ruth bewunderte sie dafür. Wieso nicht auch so sein?

Die Katzen hörten die Geräusche als Erste. Ruth war fast schon eingeschlafen, aber sie setzten sich auf, sphinxähnlich, die Pfoten nach innen gestellt, die Augen geschlitzt. Sie sahen aus wie die kleinen Kaiser auf den Stoffen, die im achtzehnten Jahrhundert von China nach England geschickt worden waren. Ihre Ohren bewegten sich, ihre Schwänze verrieten Wachsamkeit. Ruth, die ihre Wachsamkeit spürte, drehte den Kopf auf dem Kissen, um zu lauschen, und da war es: Etwas bewegte sich durchs Wohnzimmer und verschob dabei die Möbel, aber die Schritte waren so leicht, so schwerelos. Es folgte ein lautes Ausatmen, wie das Schnüffeln einer enormen Hauskatze an einer unerklärlicherweise geschlossenen Tür, und als die Katzen das hörten, verloren sie ihre Gelassenheit und ergriffen die Flucht.

Jetzt bemerkte Ruth einen ungewöhnlichen Geruch, der ins Zimmer zu kommen schien, als die Katzen es verließen. Dieser sehr eigene Geruch, konzentriert und ranzig, war völlig anders als der eines richtigen Dschungels, aber genau diese Kindheitserinnerungen weckte er in Ruth. Es war wie bei den Warnschreien der Möwen im Garten, wenn die Katzen sich im Gras versteckten: keine direkte Panik, sondern nur ein allgemeiner Aufruf zu Wachsamkeit. Konnte ein Geruch eine Möwe sein? Oder war er doch eher wie ein Papagei? Der Tiger schüttelte den Kopf – neues Atmen begleitete dieses Kopfschütteln – und tappte durchs Wohnzimmer. Es ärgerte Ruth, ihn zu hören; sie ärgerte sich über sich selbst, weil der Tiger jetzt, wo sie Frida und Richard hatte, völlig sinnlos geworden war; er hatte den Weg für die beiden bereitet und wurde jetzt nicht mehr gebraucht. Sie lauschte auf Veränderungen in den Geräuschen des Tigers, und als sie sie hörte, zog sie wilde Schlussfolgerungen: Der Tiger ist im Flur, es sind zwei Tiger, die Insekten fressen die Möbel, vielleicht ist sogar ein Wildschwein da. Verloren in diesen Spekulationen, schlief sie ein.

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