Nacht ohne Namen by Nuyen Jenny-Mai

Nacht ohne Namen by Nuyen Jenny-Mai

Autor:Nuyen, Jenny-Mai [Nuyen, Jenny-Mai]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-02-22T00:00:00+00:00


Die Liebe einer Mutter zeigt sich in Zurückhaltung

Sie starrten sich an.

»Du schon wieder«, stellte die Traumdeuterin in einem unendlich müden Ton fest. Wenigstens wirkte sie nicht verärgert.

Als Nicki nichts sagte, trat Isabel Arouk zur Seite. »Komm schon rein.«

Nicki gehorchte und die Tür wurde sorgfältig hinter ihr verschlossen. Dann führte Isabel Arouk sie durch einen schmalen, um vier Ecken gewundenen Gang in ein Wohnzimmer, das nach der engen Düsternis erstaunlich freundlich erschien: Es gab weiße Polstermöbel mit bunten Strickkissen, einen filigranen Tisch, auf dem ein Strauß blauer, violetter und weißer Blumen stand, ein riesiges Regal mit Büchern und eine unbenutzt wirkende Einbauküche. Links führte eine verschlossene Tür vermutlich zu den Schlafzimmern und dem Bad. Durch die Balkontür konnte man die große Leere des Tempelhofer Feldes erspähen.

»Setz dich«, murmelte Isabel Arouk. »Willst du einen Kirschsaft?«

»Danke.« Nicki nahm Platz, verstört von all der Höflichkeit. Die Vorwürfe, die sie innerlich gegen Canons Mutter angesammelt hatte, nun auf Isabel Arouk zu übertragen war gar nicht so einfach.

Während sie sich umsah, goss Isabel Arouk Saft aus dem Kühlschrank in ein Glas. Obwohl die Einrichtung gemütlich war, gab es keine Fotos und keine Bilder an den Wänden – auch die Bücher im Regal hatten einheitliche Rücken mit nüchterner Beschriftung, sodass es sich entweder um wissenschaftliche Texte handelte oder um Attrappen. Im Grunde fehlte dem Raum völlig das Persönliche. Man hätte ihn für einen Möbelkatalog fotografieren können, ohne auch nur einen Gegenstand wegnehmen zu müssen.

Die Traumdeuterin reichte ihr das Glas. Sie selbst hatte sich nichts zu trinken genommen, dafür hielt sie eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug in der Faust.

Isabel Arouk ließ sich auf einem Sessel nieder. Jetzt begriff Nicki, warum ihr Wollpullover so ausgebeult war: Sie winkelte die Knie an und schob den hellbraunen Wollstoff darüber, sodass sie wie eine Nuss in ihrer Schale dasaß, nur der Kopf und die Socken guckten heraus. Während sie sich eine Zigarette ansteckte und daran saugte, wirkte sie noch zerbrechlicher, noch kindlicher als bei ihrem letzten Treffen. Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht und die grauen Strähnen in ihrem dicken Haar konnten daran kaum etwas ändern.

»Also schickt er dich, ja?«, fragte sie und atmete Rauch. »Du kannst ihm ausrichten, dass ich alles neu eingerichtet habe. Sein Zimmer ist …«

»Er hat mich nicht geschickt.«

Isabel Arouk zog nervös an ihrer Zigarette.

Nicki nahm einen Schluck und stellte das Glas dann behutsam auf dem Tischchen ab. Ein roter Rand zeichnete sich auf der Glasfläche ab. »Ich muss was klarstellen. Ich weiß, dass Sie … Sie haben Canon denen zur Verfügung gestellt, als er ein Baby war. Ich mache Sie verantwortlich für alles, was ihm zugestoßen ist.« Sie sah Isabel Arouk an. Ihr Gesicht war aschfahl geworden. »Aber ich bin nicht gekommen, um Sie zur Rechenschaft zu ziehen. Bestimmt hatten Sie Ihre Gründe, und um ehrlich zu sein, die sind mir egal. Ich bin hier, weil ich ihn besuchen will. Er liegt im Krankenhaus. Aber ich weiß nicht, ob er wirklich mit Nachnamen Özcan heißt, und die lassen sowieso nur Angehörige zu ihm.«

Isabel Arouk schrak auf, als die Asche von ihrer Zigarette fiel.



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