Nacht ohne Morgen by Alfonso Pecorelli

Nacht ohne Morgen by Alfonso Pecorelli

Autor:Alfonso Pecorelli
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: epubli GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2012-01-01T00:00:00+00:00


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Kathleen O’Hara hatte sich auf einem bequemen, burgundroten Sessel an der Hotelbar niedergelassen. Sie schaute sich um. Ein Luxusschuppen, Grand Hotel, klassisch kolonialer Stil. «Nicht mein Geschmack», dachte sie. Dann drängten sich wieder die Bilder der Slums in ihre Erinnerung, der elende Ort, wo die Menschen krepierten – keine zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt. Unter Aufbietung aller Willenskraft versuchte sie, den Gedanken zu verdrängen und ihn durch Tagträumereien zu ersetzen. Sie nahm einen grossen Schluck Whisky und schloss die Augen. Morgen früh würde sie den ersten Direktflug zurück nach New York nehmen. Inzwischen hatte sie zweieinhalb Gläser Whisky intus, und ihr wurde langsam schwindlig. Kathleen hatte früher nie viel getrunken, sodass ihr der Alkohol schnell zu Kopf stieg. Das dämpfende Gefühl tat ihr jedoch gut. Alles um sie herum schien leichter zu ertragen. Die Geräusche verschmolzen zu einer einzigen sinnlosen Kulisse.

Klaviermusik schwebte gedämpft an sie heran, etliche Akkorde und Töne der Melodie schienen sich gar auf dem Weg zu ihr zu verlieren; die ohnehin dezenten Gespräche der anderen Gäste in der Bar murmelten wie von fern an ihre Ohren. Ihr ganzes Leben war auf einmal gedämpft, selbst der nahende Tod schien ihr nicht mehr so schrecklich. Eigentlich war alles gar nicht so schlimm.

Auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Foyers traf nun eine Masse von Menschen ein, die sich vor dem Grand Ballroom versammelten und sich in kleinen Gruppen unterhielten. Als Kathleen sie genauer ins Visier nahm, konnte sie erkennen, dass es sehr junge Menschen waren, und alle waren schick angezogen. Es musste sich um eine Weihnachtsfeier handeln.

Aus den offenen Türen des Grand Ballrooms drang nun Musik, allzu laut und sehr modern. Die meisten begannen in den Ballroom zu strömen, aber einige blieben im Foyer, tranken aus schmalen Cocktailgläsern, lachten, flirteten und scherzten.

Kathleen ertappte sich dabei, dass sie wohl minutenlang zu den jungen Menschen gestarrt hatte, während die ganze Zeit dieselben Gedanken in ihrem Kopf kreisten: «Alle noch so jung, so lebendig, voller Leben – das Privileg der Jugend. Warum muss ich sterben und die dort nicht? Sie werden leben, lachen, essen, trinken, verzweifeln, hoffen und lieben. – Und ich werde sterben.»

Unbändiger Hass braute sich in ihr zusammen.

Vielleicht war sie mit diesem Hass nicht einmal alleine. Vielleicht empfanden ihn ja auch viele alte oder andere junge, aber todkranke Menschen beim Anblick der Jugend. Einen abgrundtiefen Hass. Mit dem eigenen Ende konfrontiert, schien ihr die Jugend der anderen bloss noch hassenswert.

Der Gedanke half. Ja, der Gedanke, diese jungen, perfekten Körper lachender Menschen noch vor ihr sterben zu sehen, oh ja, das half – doch nur den Bruchteil einer Sekunde, dann war es vorbei.

Sie wischte sich die Tränen und die tropfende Nase mit dem Ärmel ihrer Armani-Bluse ab und trank einen weiteren Schluck Whisky aus dem halbvollen Glas.

Als junge Studentin, so fiel ihr ein, hatte sie die Geschichte von einem Mann gelesen, der nicht sterben konnte. Sie versuchte, sich an den Titel des Buches oder an den Autor zu erinnern, aber weder das eine noch das andere wollte ihr gelingen. Die wesentlichen Züge der Story hatte sie jedoch nicht vergessen.



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