Mutter Blamage und die Brandstifter by Stephan Hebel
Autor:Stephan Hebel [Hebel, Stephan]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Westend Verlag
veröffentlicht: 2017-03-29T22:00:00+00:00
Zum Schaden für die Bürger
Niemand behauptet, der Staat solle sich gegen Terror und Gewalt nicht wehren – auch die Gegner einer rechtsstaatsfeindlichen »Sicherheitspolitik« lehnen angemessene Befugnisse zur Aufklärung und Verfolgung von Straftaten natürlich nicht ab. Und dennoch sehen sich Kritiker des überbordenden Ausbaus von Kontroll- und Verfolgungsapparaten leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Gefahren von Kriminalität und Terrorismus auf die leichte Schulter zu nehmen. Das ist sogar bis zu einem gewissen Punkt verständlich: In der Tat liegt der Wunsch, sich mit möglichst allen zur Verfügung stehenden Mitteln vom Staat beschützen zu lassen, auf den ersten Blick nahe. Die Furcht, auf einem Flughafen, an einem Bahnhof oder auf einem Weihnachtsmarkt von einer Bombe getötet oder von einem Mörder im Lkw überfahren zu werden, ist natürlich zunächst konkreter als die Vorstellung, man könnte selber zum Opfer des Abbaus von Bürgerrechten werden. Dass man von der Datensammelwut des Staates oder gar von einem der stetig verschärften »Antiterrorgesetze« einmal selbst betroffen sein könnte, das ist ein sehr abstrakter Gedanke. Man hat sich ja nichts zuschulden kommen lassen, und wer gerät schon zu Unrecht ins Visier der Verfolger?
Das ist allerdings zu kurz gedacht. Denn längst ist erwiesen: »Überwachungsstaaten« oder auch deren Vorformen verändern die Gesellschaft, die sie zu schützen vorgeben, eindeutig negativ. Je lückenloser die Überwachung und je umfassender die Verfolgungsmöglichkeiten des Staates, desto größer wird auch das Risiko für jeden Einzelnen, einmal unschuldig in die Mühlen der Ermittlungsbehörden zu geraten. Aber nicht nur das: Schon das mehr oder weniger allgegenwärtige, aber weitgehend unsichtbare Ausspähen an sich löst etwas aus, das die Menschen unfreier macht, zum Teil ohne dass wir es sofort bemerken. Datenschützer nennen es den »Chilling-Effekt«.
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Effekt – und seine schädlichen Auswirkungen auf eine demokratische Gesellschaft insgesamt – bereits 1983 in wegweisender Form beschrieben. In seinem berühmten Volkszählungsurteil, mit dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung begründet wurde, heißt es: »Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten.«25
Das gilt noch mehr in Zeiten der digitalisierten Kommunikation, die dem Staat Aufschluss gibt über politische und andere Vorlieben seiner Bürger und der werbetreibenden Wirtschaft über bevorzugte Waren. Nur dass wir es bei der Wirtschaft an den personalisierten Anzeigen auf unserer Facebook-Seite wenigstens manchmal noch merken – und beim Staat eben nicht. Beziehungsweise erst dann, wenn wir einmal in seine Mühlen geraten sollten.
Die Folgen, so die Verfassungsrichter, betreffen die politische Kultur und damit die Gesellschaft insgesamt: »Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.
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