Munk by Ricardo Piglia
Autor:Ricardo Piglia [Piglia, Ricardo]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wagenbach
veröffentlicht: 2015-04-23T16:00:00+00:00
Achtes Kapitel
1
Im Gegensatz zu gewöhnlichen politischen Pamphleten war das Manifest über den technologischen Kapitalismus ein systematischer Essay im Stil der analytischen Philosophie, eingeteilt in nummerierte, thematisch geordnete Absätze. Es gab weder Rhetorik noch kämpferische Forderungen, der Verfasser schrieb mehr wie ein Akademiker als ein Politiker. »Mehr wie ein Lehrer als ein Prophet«, paraphrasierte Nina den von ihr geschätzten Bertrand Russell. (»Aristoteles«, hatte Russell gesagt, »war der Erste, der wie ein Lehrer und nicht wie ein Prophet sprach.«)
Jeder hatte eine klare Vorstellung davon, wie man in der heutigen (wortreichen, lauten) Zeit eine Botschaft verbreitete. Der Schritt zum Bösen, der Entschluss zu töten, war mit der Absicht verbunden, sich Gehör zu verschaffen. Ich gebe den Absatz 96 (»Pressefreiheit«) des Manifests wieder. »Jeder, der über ein wenig Geld verfügt, kann eine Erklärung veröffentlichen oder sie ins Internet stellen, doch das Gesagte wird in der gewaltigen Menge des von den Massenmedien produzierten Materials untergehen und keinerlei praktische Auswirkung haben. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft mit Worten zu wecken ist folglich für den Großteil der Individuen und Gruppen so gut wie unmöglich. Hätten wir, der Freedom Club, keine Gewalttaten verübt und die vorliegende Erklärung einem Verleger geschickt, wäre sie wahrscheinlich nie veröffentlicht worden. Hätte er sie aber publiziert, hätte sie wahrscheinlich nicht sehr viele Leser gefunden, denn das Unterhaltungsprogramm der Massenmedien ist interessanter, als einen ernsten Essay zu lesen. Und selbst wenn unsere Erklärung ihre Leser gefunden hätte, wäre sie angesichts der Fülle an Material, mit dem uns die Medien überschwemmen, schnell wieder vergessen worden. Damit unsere Botschaft eine Aussicht auf nachhaltige Wirkung hat, war es unumgänglich, einige Personen zu töten.«
So was höre ich zum ersten Mal, sagte Nina. »Einige Personen« töten, um Leser zu gewinnen. Was für ein fürchterlicher Absatz. Der Terrorist als moderner Schriftsteller, die direkte Aktion als Pakt mit dem Teufel. Ich tue etwas Böses, um meine Gedanken zu verbreiten und Ideen auszudrücken, die die gesamte Gesellschaft infrage stellen. Das Schreiben ist garantiert echt, denn sein Verfasser konnte sich zwanzig Jahre lang in den Kontroll- und Repressionsmechanismen des Systems bewegen und Dutzende von Attentaten verüben, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Im Mittelpunkt der Abhandlung stand die Kritik am Kapitalismus als einem komplexen System mit erstaunlicher Fähigkeit zur Ausbreitung und technologischen Erneuerung. Ohne in eine sentimentale Beschreibung der sozialen Ungleichheit zu verfallen, definierte das Manifest den Kapitalismus als einen lebendigen Organismus, der sich unaufhörlich aus sich selbst heraus reproduzierte, einen darwinistischen Mutanten, »kein Gespenst mehr«, hieß es ironisch, »sondern ein Alien«, das in seiner technologischen Transformation neuartige kulturelle Formen ankündigte, die nicht einmal die Normen der Gesellschaft respektierten, die der Kapitalismus selbst geschaffen hatte.
Die kapitalistische Produktionsweise sei vor allem eine Ausweitung neuer kapitalistischer Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Dieses System könne unmöglich menschlicher gestaltet oder reformiert werden, da es nur danach strebe, die modernisierten kapitalistischen Verhältnisse zu reproduzieren. Finanzmärkte kollabierten, Volkswirtschaften gingen zugrunde, und auf diese Weise wachse das Kapital. Das Manifest deutete den Zusammenbruch der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten und die Herrschaft des Kapitals in China und den alten Kolonialgebieten in Asien als eine neue Etappe beim Vormarsch des Kapitalismus auf der Suche nach neuen Räumen.
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