Muldental by Daniela Krien

Muldental by Daniela Krien

Autor:Daniela Krien [Krien, Daniela]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-04-27T16:00:00+00:00


SOMMERTAG

die tasse ist zu voll. Ottos Hände zittern so stark, dass ihm der Kaffee über den Rand schwappt. Er schielt zu Heinrich, dann balanciert er die Tasse zurück zum Tisch.

Heinrich legt die Schraubzwinge zur Seite und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Geh nach Hause, Otto«, sagt er. »Hat ja keinen Sinn so.«

»Ist schon in Ordnung. Hört gleich wieder auf.«

Heinrich seufzt. Schweigend fegt er die Sägespäne auf dem Boden zusammen. Als er fertig ist, legt er Otto die Hand auf die Schulter.

»Mensch, Otto, zum letzten Mal: Entweder das Gesaufe hört auf, oder du brauchst nicht mehr kommen.«

Otto packt seinen Rucksack, reibt sich das Kinn und nickt.

»Geht in Ordnung, Chef«, murmelt er.

*

Otto kann den Tag, als sein Ruin begann, genau benennen. Es war der 9. November 1989.

»Nicht nur die Mauer ist gefallen«, sagt er oft, »auch ich, und zwar auf die Fresse.«

Seine Frau Maggie lacht solche Aussagen weg. Überhaupt lacht sie oft und laut und meistens an Stellen, wo anderen das Lachen vergeht.

Seit Otto hin und wieder beim örtlichen Tischlermeister Heinrich Profalla aushilft, hat auch Maggie eine neue Aufgabe. »Kein Alkohol in der Werkstatt«, hatte Heinrich verfügt und Otto Taschenkontrollen angekündigt. Wenn es also vorkommt, dass Otto länger als zwei Stunden bei Heinrich arbeitet, dann bindet Maggie ihre Schürze ab und ein Kopftuch um, läuft zum Haus der Profallas und wartet auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Früher oder später findet Otto einen Grund, hinaus zu müssen, und von der Werkstatt aus kann man Maggie nicht sehen. Manchmal werkelt Heinrichs Frau Elisabeth im Garten. Entweder kehrt er dann um, oder er ruft überrascht: »Maggie! Was machst du denn hier?«, und an Elisabeth gewandt: »Ich geh schnell fragen, was sie hat.« Dann zieht Maggie aus ihrer braunen Kunstledertasche ein kleines Fläschchen mit klarem Schnaps heraus, gibt es Otto, wartet, bis er ausgetrunken hat, und trottet wieder nach Hause. Auf diese Weise schafft Otto einen Arbeitstag von etwa sechs Stunden.

Der Rückweg wird ihm an solchen Tagen jedoch schwer. Manchmal setzt er sich auf halber Strecke auf die Bank vorm Gemeindesaal und nickt ein.



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