Moscoviada by Juri Andruchowytsch

Moscoviada by Juri Andruchowytsch

Autor:Juri Andruchowytsch [Andruchowytsch, Juri]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-07-01T22:00:00+00:00


Im Erdgeschoß gibt es Spielwaren. Vielmehr keine Spielwaren. Vom gesamten möglichen Sortiment, von der ganzen Welt zauberhafter Phantasien, vom ganzen parallelen und märchenhaften Erdenkreis existiert hier nur eine Papiertaube zum Selberbauen, die ausnahmslos alle Abteilungen füllt. Tausende, Hunderttausende, Millionen Papiertauben zum Selberbauen! Ein Kontinent von Papiertauben, verpackt in blaue Schachteln. Alles andere war schon vor der Revolution ausverkauft. Nur die Papiertauben existieren noch, um die ausländischen Spione glauben zu machen, Ware und ausreichend Spielzeug seien vorhanden. Die Tauben werden von einer Panzerfabrik produziert. Abfallprodukte. Einige verzweifelte Kunden kapitulieren und entschließen sich zum Kauf. Und glückliche sowjetische Kinder wischen sich die Zornestränen von den Wangen und tragen fliegende Papiertauben unterm Arm. Enttäuschung, Verlust, Zähneknirschen. Die Tauben in den Regalen werden trotzdem nicht weniger.

Wo ist bloß die Toilette? Schrecklicher Drang zum Wasserlassen. Absurde Hinweisschilder tauchen auf, etwa »1. Artilleriegasse«, aber du brauchst keine Kanonen, willst aus deinem eigenen Rohr schießen, um wiedergeboren zu werden in diesen überfüllten Sälen, in der genervten, aber folgsamen Menge. Vorbei an leeren Abteilungen, an der Sektion für Zahnbürsten und Schallplatten, die mit Papiertauben und den stinkenden, von der Firma »Melodija« herausgegebenen Hymnen aller Sowjetrepubliken angefüllt ist, da – endlich!

Unzweideutige Türen mit dem Buchstaben »M«. Du kramst in deiner Tasche nach zwanzig Kopeken. Aber selbst wenn sie hundert Rubel verlangten, du würdest nicht feilschen, nicht eine Sekunde. Liebevoll nimmt die Alte am Eingang deine Münze entgegen. Die Moskauer Babuschkas haben Mitleid mit Säufern. Sie streiten nicht, schimpfen nicht, sondern nehmen die Säufer als gegeben hin. In Moskau betrunken sein ist dasselbe wie eine sehr verbreitete Haarfarbe haben. Kann man einem Menschen seine Haarfarbe vorwerfen? Wohl kaum.

Als du das Pissoir mit den uralten, vielleicht sogar antiken Kacheln an der Wand betrittst, fällt dir ein respektabel gekleideter, schon leicht angegrauter Herr auf, der einfach nur dasteht und raucht. Hagerer südländischer Typ, um die Sechzig, perfekt sitzender Anzug, glänzende Krawattennadel, Goldzahn, gebräuntes Gesicht – irgendein Aseri, Armenier oder Zigeuner. Er verfolgt dich mit schlüpfrigem Blick. In letzter Zeit gibt’s immer mehr Schwule – sie spüren, daß Gesetzesänderungen bevorstehen und zeigen ihre Neigung ganz ungeniert.

Du wirfst dir die Tasche über die Schulter, und deine regenklammen Finger beginnen den Kampf mit dem Reißverschluß. In solchen Momenten kommt es darauf an, Ruhe zu bewahren. Es wäre zu schade, hier, kurz vor dem Ziel, eine Niederlage zu erleiden. Deshalb ist jede deiner Bewegungen betont konzentriert, ausgewogen und andächtig …

Es dauert sehr lange und bereitet dir unheimliches Vergnügen. Dann ziehst du den Reißverschluß hoch und passierst selbstbewußt das ergraute Onkelchen vom anderen Ufer. Er starrt dich ganz schön frech an und verzieht auch noch die Mundwinkel zu einem Lächeln. Da bist du aber an den Falschen geraten, Verehrtester! Ich werd ja kaum mit meinen ganzen Weibern fertig! Keine Chance, daß dein Goldzahn mich verführt. Ciao, Alter!

Du hättest gleich beim Pissoir anfangen sollen. Denn nach dem Besuch dort vollzieht sich eine wundersame Aufhellung, du erinnerst dich plötzlich an deine Freunde, an ihre Kinder und daran, warum du hergekommen bist. Du gehst in den Saal hinaus und siehst völlig klar.



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