Molas, Aurelien by Die Unseligen

Molas, Aurelien by Die Unseligen

Autor:Die Unseligen
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


76

Vom Dach des Gebäudes aus beobachtete Henry Okah die Umgebung von Baganako. Die Vergrößerung des Fernglases erlaubte ihm, einen Umkreis von zwei Kilometern zu überprüfen. Jenseits davon verschwanden Menschen wie Tiere in den tief hängenden Dunstschwaden, die den Sonnenaufgang begleiteten.

Er schüttelte das Bein, um die Insekten zu verjagen, die in dichten Schwärmen über den Boden und seine Waden hinaufkrochen. In der Ferne sah er auch Bauern – Kameruner und Nigerianer –, die sich zu beiden Seiten der Grenze über den Lehmboden schleppten. Es war traurig, zu sehen, wie diese Schatten nur mühsam vorankamen und regelmäßig lange Stöcke in den rissigen Trockenschlamm steckten. Alle drei Schritte führten sie dieselbe Geste aus; sie suchten den kleinen Bereich an der Oberfläche, der etwas lockerer war – dort bohrten sie dann Löcher und legten einige Weizenkörner hinein.

Er setzte das Fernglas ab und sah sich um. Der Beobachtungsposten, den er ausgewählt hatte, erlaubte es ihm, die drei Hauptrouten zu überwachen, die nach Baganako führten, sowie die beiden Pisten, die die Zöllner bei ihren Patrouillenfahrten entlang der Grenze bevorzugten. Außer dem Auto, das die Ebene durchquert hatte, ehe es in die Stadt hineingefahren und dann Richtung Krankenhaus gerast war, hatte er kein weiteres Fahrzeug bemerkt. Im Westen hingen noch immer von dem Wagen aufgewirbelte gelbe Staubfahnen in der Luft.

Er ging bis an den Rand des Dachs vor und spuckte aus. Die Straßen waren menschenleer, ebenso das Gebäude. Die Stille war unglaublich dicht. Er setzte sich auf das Backsteinmäuerchen, welches das Dach umfasste, hob das Fernglas wieder an die Augen und stellte es auf das Krankenhaus von MSF ein.

Er brauchte einige Sekunden, um den beweglichen Gestalten eine Funktion zuordnen zu können, sie aus dem Zusammenhang zu lösen, um den Sinn der Szene besser zu verstehen.

Zwei Männer, die er für Ärzte hielt, versuchten, einen Körper aus dem Fahrzeug herauszuziehen, das vor dem Eingang eine Vollbremsung hingelegt hatte. Ein weiterer Mann, vielleicht ein Krankenpfleger, bereitete eine Krankentrage vor. Der Fahrer des Fahrzeugs stand reglos einige Meter von der geöffneten Wagentür entfernt und betrachtete die Szene. Okah kniff die Augen zusammen, in dem Bemühen, seine Gesichtszüge zu erkennen, aber alles, was er sah, war seine weiße Haut. Einer der Ärzte beugte sich von der Rückbank nach draußen, um etwas zu rufen, seine Hände und sein weißes T-Shirt waren übersät mit granatroten Flecken.

Als Henry Okah hastige Schritte im Treppenhaus des Gebäudes hörte, legte er das Fernglas auf seine Knie. Er betrachtete den Tschadsee, der unter der Sonne glänzte, und sagte sich, dass Yaru Aduasanbi sich keine großartigere Kulisse zum Sterben hätte aussuchen können.

Die Tür, die zum Dach führte, wurde aufgerissen, und in der Öffnung erschien ein jugendliches Gesicht. Der Junge ging auf Okah zu, darauf bedacht, dem Rand des Daches nicht zu nahe zu kommen.

»Ist dir schwindlig?«

»Nein«, pfiff der Junge mit herausgestreckter Brust, »ich hab vor nichts Angst.«

Er zuckte mit den Schultern und kramte in seinen Taschen, aus denen er eine ganze Handvoll Zigarettenstummel zog, die er sorgfältig sortierte, ehe er sich für denjenigen entschied, der am wenigsten heruntergebrannt war.

»Du bist schnell zurückgekommen«, fuhr Okah fort und warf ihm ein Feuerzeug zu.



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