Mittsommerlügen by Hedin Malin

Mittsommerlügen by Hedin Malin

Autor:Hedin, Malin [Hedin, Malin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Aqvavit
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2024-05-20T00:00:00+00:00


21.

SIE BEFANDEN SICH noch etwas oberhalb des Weges, und Göran sank in den Schnee, die Hände in den großen Handschuhen vergraben.

Sylvia stand nur da und keuchte, völlig fassungslos. Moss war schon über Görans Gesicht, versuchte, seine hellrosa Zunge zwischen die Handschuhe zu schieben, mit heftig wedelndem Schwanz.

Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass er sich hinter den Bäumen versteckt hatte. Er musste sie gehört haben und weggerannt sein.

Jetzt brummelte er etwas, das sie nicht verstand.

»Was? Ich kann dich nicht verstehen.«

Er drehte das Gesicht zu ihr um, so konnte sie ihn verstehen.

»Jetzt glaubst du bestimmt auch, dass ich's getan hab.«

Sie merkte, dass er weinte. Mit der Rückseite seines Handschuhs wischte er sich die Tränen aus dem hochroten Gesicht.

»So wie alle«, sprach er weiter und streichelte Moss über den Rücken. »Sogar meine Frau denkt, ich hab sie umgebracht.«

Sein Gesicht fiel wieder in die Handschuhe, sie hörte abgehackte Laute, und einen Moment lang dachte sie, er hätte eine Art Anfall bekommen, doch dann merkte sie, dass ihn nur ein Weinkrampf schüttelte.

Sylvia spürte ihren Puls wieder höherschlagen, jetzt kam etwas hoch, dieses schluchzende Kinderweinen eines erwachsenen Mannes, hier mitten im Schnee, weckte alte Erinnerungen.

Beim Anblick seines Gesichts musste sie an ihren Vater denken.

Wenn sich früher die Wut ihres Vaters gelegt hatte, das Geschirr zerschlagen war und die Flasche leer, wenn nur noch sie an dem zerkratzten, alten Küchentisch übrig waren, nur sie beide, und ihm die Gesichtszüge entglitten.

Dieses krampfartige Schluchzen, das rotverquollene Gesicht und die breiten Schultern, die nun zitterten. Obwohl er gerade noch mit Dingen um sich geschmissen und ihre Mutter so verprügelt hatte, dass ihr das Blut aus der Nase spritzte, und ihr kleiner Bruder Kent im Kinderzimmer lag und sich vor Angst in die Hose machte. Er tat sich selbst leid, als ob das, was er gerade getan hatte, nicht zu vermeiden gewesen wäre, als wäre er genauso ein Opfer wie der Rest der Familie. Und obwohl sie eben noch hatte mit ansehen müssen, dass er wie ein Wilder gewütet hatte, empfand sie im nächsten Moment ein zärtliches Gefühl für ihn. Ihr armer, armer Papa.

Nun ging sie neben dem starken Mann in die Hocke, der wie ein Häufchen Elend dasaß, die Beine seitlich abgespreizt wie ein kleines Kind, den Rücken gekrümmt, die Schultern zittrig. Sie prüfte diskret seinen Atem, doch er roch nur warm und säuerlich. Keine Spur von Alkohol.

Sie schwieg immer noch, aber legte ihm die Hand auf die Schulter und streichelte ihn ganz sanft. Er rieb sich übers Gesicht, und dann sah er ihr in die Augen. Sein Haar, das unterhalb der Mütze zum Vorschein kam, war vom Frost ganz weiß und erinnerte sie an die Bryoria-Bartflechten an den Tannen, die Terese so faszinierend fand.

»Ich lieb sie doch«, sagte er, und seine Stimme war klar und deutlich, und seine Augen glänzten nass. »Ich hätt ihr niemals wehgetan.«

Ihm haftete eine Art kindlicher Kummer an, ein Junge, der seine große Liebe verloren hatte, eine Liebe, die nur in seiner Fantasie existierte, die es in Wirklichkeit nie gegeben hatte. Göran kannte Maria doch gar nicht richtig, er hätte sie niemals lieben können.



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