Mitte des Lebens by Barbara Bleisch

Autor:Barbara Bleisch [Bleisch, Barbara]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fach-/Sachbuch
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2024-08-15T00:00:00+00:00

Distanznahme und Ironie

Betrachte ich die Landschaft meines bisherigen Lebens, so wandert mein Blick über ganz unterschiedliche Gegenden. Lichte Wälder liegen neben tiefen Sumpfgebieten, sanfte Hügel gehen über in weite Wiesen, steinige Abhänge wechseln sich ab mit befestigten Pfaden. Von der Hochebene der mittleren Jahre aus lässt sich besser erkennen, wo die Grenzgebiete verlaufen und welche Landschaften durch harte Konturen begrenzt sind — wo etwa eine Freundschaft abrupt abbrach oder ein Weg sich verlief. Zeiten, die als tiefe Abgründe erlebt wurden, ähneln von Weitem betrachtet nunmehr einer kleineren Schlucht, und Durststrecken, die scheinbar kein Ende nehmen wollten, gleichen aus der Vogelperspektive nur noch einem kürzeren Abschnitt durch ein Dickicht, das etwas weiter in eine liebliche Landschaft übergeht.

In jüngeren Jahren sind einem solche luftigen Höhen des Denkens und Fühlens selten vergönnt. Es fehlt schlicht das Material des eigenen bereits gelebten Lebens, um sich überhaupt davon distanzieren zu können. In Distanz treten kann erst, wer sich zumindest ein Stück weit von den früheren Ereignissen gelöst und die Erfahrung der Vergänglichkeit gemacht hat, wer weiß, dass alles vorübergeht, auch die allerschlimmste Schmach, die schmerzhafteste Auseinandersetzung — aber auch errungene Siege und glückselige Momente. Nichts lässt sich festhalten. Das mag manchmal erleichternd sein und manchmal traurig — es nimmt aber dem Leben und unserem Treiben darin auch etwas von seiner Schwere. Denn aus der Distanz lässt sich erkennen: Wie sehr eine Sache auch immer hochgekocht wird — ziehen die Tage oder Jahre ins Land, stellt sich so vieles weit weniger drastisch dar, als es zunächst schien. Eine Erfahrung der mittleren Jahre ist deshalb, wie schon gesehen, wesentlich die der Entdramatisierung.

Solche Distanznahme zu pflegen und situativ angemessen walten zu lassen, ist die Tugend oder auch die Kunst der Ironie. Meist wird unter Ironie eine rhetorische Figur verstanden, die einen Sachverhalt durch gegenteilige Rede zum Ausdruck bringt. Sokrates beherrschte diese Form der Ironie meistergültig, indem er denen, die schon alles zu wissen glaubten, nicht in der Rolle des Belehrenden, sondern des Naiven, Unwissenden entgegentrat, dessen Fragerei erst an ein Ende kam, wenn sein Gegenüber einsah, dass seine Gewissheiten nicht mehr als Schall und Rauch waren. Ironie als eine Kunst oder auch Haltung der Lebensmitte zu verstehen, bedeutet dagegen, sich selbst einen Spielraum zu gewähren, um aus angemessener Ferne auf das Geschehen zu blicken, ohne Vergangenes ins Lächerliche zu ziehen oder zynisch zu verachten. Es gestattet dem eigenen Denken und Fühlen, »Luft zu holen«, wie der Philosoph Vladimir Jankélévitch es formulierte.52 Wer Luft holen kann, lässt sich nicht erdrücken vom Leben, sondern schafft atmend Raum — einen Raum, der von vielen als trostreich empfunden wird.53

In den mittleren Jahren haben wir hinreichend viele Erfahrungen machen können, um zu wissen, dass Dinge selten so sind, wie wir dachten, und dass auch die stärksten Gewissheiten einreißen können. Die Ironie als ein Gespür für die Kluft zwischen Wissensanspruch und tatsächlich einlösbarem Wissensgehalt immunisiert gegen Größenwahn und Überheblichkeit. Jankélévitch schreibt: »Ironie besteht darin, zu wissen, dass Inseln nicht Kontinente, Seen nicht Ozeane sind; der Seefahrer, der eines Tages an seinen Ausgangspunkt zurückkommt, erfährt, dass die Erde eine einfache runde Kugel […] ist.

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