Mit Haut und Haaren by Arnon Grünberg
Autor:Arnon Grünberg [Grünberg, Arnon]
Die sprache: deu
Format: mobi
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257601466
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
9
Ranzenhofer schläft schlecht in Hotels. Schon zum dritten Mal ist er aufgewacht. Er schaltet das Licht an und schaut auf die Uhr. Halb vier. Er schleppt sich zur Minibar, nimmt eine Dose Eistee und trinkt sie zur Hälfte.
Er überlegt, Lea anzurufen. Wenn er mit ihr gesprochen hat, kommt er leichter zur Ruhe. Ihre Stimme hat etwas angenehm Leierndes, das auf ihn einschläfernd wirkt, aber um diese Uhrzeit will er sie nicht stören.
Er streichelt sich über den Bauch, er muss abnehmen. Seit er Enrique kennt, ist er sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst, mehr als zuvor. Im Angesicht der Schönheit [336] fällt ein Mangel an ihr umso mehr auf. Versonnen streichelt er sich über sein Glied, seine Hoden. Er muss an das erste Treffen mit Enrique im Boulevard Motor Inn denken. Ranzenhofer wartete in der Lobby auf ihn. Er hatte schon eingecheckt. »Mein Name ist Jones«, hatte er mit heiserer Stimme und leicht abgewandtem Gesicht zu der Rezeptionistin gesagt. Doch die, eine Frau mittleren Alters mit Brille, die in einem Glaskasten saß, vermutlich zum Schutz gegen Raubüberfälle, schien sein Name gar nicht zu kümmern. »Bleiben Sie die ganze Nacht oder nur ein paar Stunden?«, hatte sie bloß gefragt.
Die Lobby des Hotels war ausgestattet mit einem großen Spiegel, einem schwarzen Kunstledersofa nebst Sessel und einer Südamerikanerin, die Ranzenhofer für eine Prostituierte hielt, sowie einem Getränkeautomaten.
Zu Ranzenhofers Erstaunen hatte die Prostituierte ihn nicht im Geringsten beachtet. Sie saß einfach nur da, und nach ein paar Minuten fielen ihr die Augen zu.
Nach circa einer Viertelstunde war Enrique in seiner UPS-Uniform erschienen.
Unmenschlich, es gibt eine Schönheit, die unmenschlich ist.
»Setz dich«, sagte Ranzenhofer zu dem immer noch stehenden Enrique.
»Noch nicht alles in Ordnung?«, fragte der.
Er hatte Enriques Hand genommen und ihn sanft auf das Sofa gezogen.
Außer der Prostituierten und der Frau hinter Glas war niemand sonst in der Lobby.
Ranzenhofer ließ Enriques Hand los, und mit weicher, [337] aber eindringlicher Stimme sagte er: »Es geht nicht um eine Beschwerde, es geht um Hilfe.«
»Hilfe nicht nötig«, sagte Enrique. »Wirklich nicht.«
Ranzenhofer nahm wieder die Hand des Paketboten. Er näherte sich einem Mysterium, kein Zweifel, etwas Ehrfurchtgebietendem, das er nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.
»Ich bin in die Politik gegangen, um Menschen zu helfen, aber die Politik ist abstrakt, man sieht die Menschen nicht, denen man hilft. Verstehst du?«
Er sah den Paketboten an, doch der schien ihn nicht zu verstehen. So viel jugendliche Schönheit war eigentlich Sünde. Verbrechen.
»Gehen wir nach oben, da können wir ungestört reden.«
Er warf einen Blick auf die Frau hinter Glas, doch die beachtete ihn nicht. Sie telefonierte.
Die Augen der Prostituierten waren noch immer geschlossen.
»Wie, nach oben?«
»Nach oben, hier«, sagte Ranzenhofer. »An einen Ort, wo wir ungestört reden können. Nur wir zwei.«
»Nicht reden«, sagte der Bote. Er riss seine Hand los.
»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Ranzenhofer mit noch weicherer Stimme als vorher. »Ich kenne deine Geschichte, sie ist uralt. Du bist ein Mann ohne Papiere. Das ist nun mal so.«
Ranzenhofer stand auf, ebenso der Junge. Sanft schob der Bürgermeister ihn in die Richtung, wo er den Aufzug vermutete.
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