Miss Nightingale in Paris by Cynthia Ozick

Miss Nightingale in Paris by Cynthia Ozick

Autor:Cynthia Ozick
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2014-01-01T05:00:00+00:00


27

Von Schreien geweckt, dachte Iris zunächst an tierische Laute. Dann fiel ihr wieder ein, wo sie war, wie es Menschen oft passiert, die schlecht schlafen und schlagartig zu vollem Bewusstsein erwachen, und sie machte sich klar, wie unwahrscheinlich es war, dass wilde Vögel und streunende Katzen mitten in der Nacht im Haus waren. Die halbe Flasche Wein, die sie am Abend zuvor geleert hatte und die ihr eigentlich zu einem guten Schlaf hatte verhelfen sollen, erzeugte stattdessen eine eindringliche Gewissheit. Der Wein war eine Entdeckung: Er bewirkte, dass sie sah. In dieser fremden Stadt hatte sie angefangen, alles zu begreifen, was vorher gewesen war – die lange Mühsal, die beharrlich im Klassenzimmer verbrachten Jahre und die ungesunde Diziplin im Labor, der einsame Drang nach Perfektion, nach Qualität, nach dem Lob ihres Vaters. Sie war perfekt, und sie war qualifiziert. Sie hatte Preise und Stipendien bekommen. Was auch immer sie tat, sie tat es sorgfältig und gut. Aber hier – hier warf sie ihre Strümpfe in die Luft und ließ sie tagelang von Bilderrahmen baumeln! Hier war es normal, Wein zu trinken – die Leute tranken täglich zu den Mahlzeiten, Wein war so normal wie zu Hause das Wasser auf dem Tisch. Und für den Wein erfand man eigene Gründe: Man trank ihn zum Vergnügen, zwecks besserer Verdauung, um schlafen zu können … und aus anderen Motiven. Damit man nicht mehr qualifiziert sein musste. Damit es einem egal war, was man sagte oder zu wem. Wie eine Höhle, wie ein Labyrinth hatte der Wein seine Geheimnisse. Man konnte in ihn eintreten und sich dann vorsichtig vorantasten; je tiefer man ins Innere geriet, desto mehr vom Wein durchtränkt waren die Wände, wurden heller und heller – wie wenn Augen, die man vor der Sonne schließt, auf ihr eigenes rotes Blut blicken.

Die Geräusche kamen aus zwei Zimmern weiter weg. Es waren nicht die Laute ihres Liebesspiels. Die kannte Iris, das Gemurmel und die Echos, die stärker wurden, dann langsamer, dann wieder stärker und schließlich mit dem kristallenen Knacken einer Eierschale zerbrachen, wenn das orangefarbene Dotter hell ausläuft. Der Liebesakt der beiden schien endlos und tragisch, wie ein entsetzlicher Durst, eher der von Lili als der ihres Bruders – das lehrte sie der Wein. Der Wein war ein Lehrmeister. Sie lauschte auf das Geräusch, wenn die beiden Körper auf­einander­trafen. Diese hohen, gepressten Ausrufe waren nicht das Geblöke beim Liebesakt, nein: Sie gehörten zu den Träumen. Schlimmen Träumen: Schon in der Kindheit hatte Julian im Schlaf geschrien: Er stürzte, stürzte aus einem großen, zerbrechlichen Gefäß in ein Feuer. Der Sturz und das Feuer und der Geruch und der Brand erschreckten ihn und weckten ihn auf. Aber es war nicht der Sturz ins Feuer, es war nicht der Liebesakt. Es war Lili. Lilis schlimme Träume riefen ein merkwürdiges Pfeifen und manchmal ein harsches, grimmiges Grunzen hervor oder sogar ein metal­lisches Klicken, wie wenn der Hahn eines Abzugs gespannt wird. Lilis Träume waren tödlich. Nur Julian wusste, warum. Und während Lili am nächsten Morgen über Julians schlimmen



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