Militaermusik by Kaminer Wladimir

Militaermusik by Kaminer Wladimir

Autor:Kaminer Wladimir
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2011-08-23T11:04:43+00:00


Die Läuse der Freiheit

Unter Gorbatschow verlor die sozialistische Ideologie vollends ihre Glaubwürdigkeit. Ihr Antlitz wurde nicht menschlicher, sondern verzerrter. Eine Ideologie, die keine Angst mehr einjagt, hat keinen Anspruch auf Ewigkeit, sie verlor massenhaft die Seelen ihrer Träger - der Kommunisten-Karrieristen, denen nun mehr und mehr Zweifel kamen, ob sie sich immer richtig verhalten hatten während ihrer Karriere in der Kommunistischen Partei. Keiner von ihnen glaubte mehr ernsthaft an den Sieg des Sozialismus. Das galt auch für den Direktor des Betriebes, in dem mein Vater arbeitete: Dieser ehemalige Oberst, seit dreißig Jahren in der Partei, sagte bei einer privaten Versammlung im Sportsaal der Firma ganz offen und ohne Angst, er bezweifle, dass die sozialistische Ideologie eine Zukunft habe und wolle deswegen noch in diesem Jahr mit dem Ausbau seiner zweiten Datscha fertig werden. Für meinen Vater kam diese Botschaft so unerwartet wie ein Blitzschlag. Er hatte nämlich den Bau seiner ersten Datscha noch gar nicht angefangen, stattdessen hatte er vergeblich jedes Jahr versucht, in die Partei einzutreten, und fühlte sich nun von den Kommunisten verladen. Anstelle der alten Ideologie, die in Sachen »Eigeninitiative oder wie baue ich meine Datscha auf Kosten des Betriebes« nur Parteimitglieder berücksichtigte, kamen neue, zeitgemäßere Orientierungen ins Spiel.

1985 sprach mein Vater zum ersten Mal in der Küche vom »Business«. Er erzählte meiner Mutter, dass sein ehemaliger Chef, der vor zwei Jahren als Leiter der Abteilung Planwesen wegen unvorschriftsmäßiger Verwendung von Baumaterialien zu anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden war, wieder aufgetaucht sei und jetzt ein eigenes

»Business« aufgebaut habe. Nun versuche er meinen Vater zu überreden, für ihn zu arbeiten, für das doppelte Gehalt. Doch mein Vater war noch sehr konservativ; dieses »Business« roch für ihn zu stark nach Knast. Ich war gerade an dem Abend mit ganz anderen Problemen beschäftigt, ich bekämpfte nämlich Läuse, die sich in meinen Kopfhaaren eingenistet hatten. Ich saß mit einem Plastikbeutel auf dem Kopf im Nebenzimmer und betrachtete eine große Karte der Sowjetunion, die an der Wand direkt vor meiner Nase hing. Der Gorbatschow'sche Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte dem Land zwei neue Spielzeuge beschert: »Business« für die Väter und »Freiheit« für die Söhne. Für mich fing diese leider mit Läusen an.

Die alternative Jugendkultur stand Mitte der Achtzigerjahre in voller Blüte, und überall wimmelte es von Anhängern der Hippie- bzw. Punkbewegung. Allein der Leningrader Rockklub zählte achthundert Bands, und per Anhalter herumzureisen war große Mode. »Von Moskau nach Nagasaki, von Europa bis zum Mars«, sang Umka, die russische Janis Joplin, eine der Stimmungskanonen der damaligen Zeit.

Die Jugendlichen reisten von einer Stadt zur anderen, alle kannten sich und konnten überall »Flat and Food« finden, wie es hieß.

Mein Freund Katzman und ich wollten im Sommer 1985 wieder einmal zu unserem Lieblingszeltplatz nach Lettland trampen. Dort ging der Spaß schon im Mai los und endete erst im November, wenn der erste Schnee vom Himmel fiel. Doch dieses Jahr hatten wir uns meinetwegen verspätet. Ich hatte mich in ein junges Mädchen aus Kiew verliebt, das eine Weile in Moskau gewohnt hatte und kurz davor war, nach Kiew zurückzufahren, als wir uns kennen lernten.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.