Merle 2 - Das Steinerne Licht by Kai Meyer

Merle 2 - Das Steinerne Licht by Kai Meyer

Autor:Kai Meyer
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-03-14T11:57:30+00:00


Achse der Welt

Sie waren nicht die Einzigen, die sich dem Felsspalt aus der Luft näherten. Merle konnte jetzt Kreaturen erkennen, die wie Stechmücken um die mächtigen Steinkolosse schwirrten, eine Vielzahl dunkler Punkte. Sie waren zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen.

Merle und Winter gingen hinter dem Steinwulst in Deckung. Merle hoffte, dass auch Vermithrax sich tiefer in die Ohrmuschel zurückzog. Sie machte sich Sorgen um ihn. Er war allein und hatte niemanden, der ihm erklärte, was dort draußen vor sich ging. »Es geht ihm gut«, sagte die Königin beruhigend. Der erste Schädel, der sich schräg vor ihnen befand, tauchte in den Schatten der gigantischen Beine. Von oben konnte Merle die riesigen Füße am Boden sehen, mächtige Felsovale, um die herum sich die Marschrouten der Lilim schlängelten. Noch immer war sie nicht in der Lage auszumachen, wie die Wesen im Detail aussahen, zu eng war das Gewimmel, zu groß die Distanz. Die Herolde erhöhten merklich ihre Flugbahn, bis sie oberhalb der steinernen Knie der Kolosse schwebten. Merle verlor die Kolonnen tief unter sich aus den Augen und blickte stattdessen an den riesenhaften Körpern der Kämpfer empor. Von nahem hätten sie ebenso gut bizarre Felsformationen sein können, ihre Proportionen erschlossen sich nur aus der Ferne. Die steinernen Oberschenkel, zwischen denen die Herolde hindurchflogen, wurden zu grauen Wänden, zu groß, um ihren Anteil am Ganzen zu ermessen.

Der Anblick raubte Merle den Atem. Der Gedanke, dass diese Größe künstlich erschaffen worden war, mit Schweiß und Blut und unendlicher Geduld, überstieg beinahe ihre Vorstellungskraft.

Wie hatten die Arbeiter ausgesehen, die diese Figuren aus dem Stein gehauen hatten? Wie Menschen? Oder eher wie die Wächter am Schlund, schabenartige Kreaturen, die den überflüssigen Fels gefressen hatten, statt ihn abzuschlagen?

Trotz der Geschwindigkeit der Herolde dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Kämpfer hinter sich gelassen hatten. Der Felsspalt selbst war um einiges tiefer, als Merle vermutet hatte, und er verlief in einer leichten Biegung, was es unmöglich machte, sein Ende zu erkennen. Die Felswände zogen rechts und links an ihnen vorüber, und hier und da sah Merle fliegende Lilim, die ihnen entgegenkamen oder denselben Weg nahmen wie sie. Sie alle schienen den Herolden in weiten Bögen auszuweichen, so als fürchteten sie die riesigen Steinschädel.

Kein Lilim schien auszusehen wie der andere. Manche ähnelten dem Bild, das sich die Menschen seit Jahrtausenden von den Bewohnern der Hölle machten: gehörnte, schuppige Wesen, die auf gewölbten Schwingen dahinsegelten. Andere hatten Ähnlichkeit mit übergroßen Insekten, klickend und schnarrend in schwarzen Panzern aus Horn. Der überwiegende Teil aber glich nichts, das Merle je gesehen hatte. Bei den meisten ließen sich Gliedmaßen ausmachen, manchmal auch etwas, das ein Gesicht sein mochte, Augen, Rachen, Zähne.

»Die sehen alle völlig unterschiedlich aus«, sagte sie fasziniert.

Winter lächelte. »Nach einer Weile wirst du feststellen, dass es wiederkehrende Muster gibt. Sie sind nur nicht so leicht zu erkennen wie bei Menschen oder Tieren. Aber wenn man sich erst einmal an den Anblick gewöhnt hat, sieht man sie sofort.«

Irgendwann endete der Spalt. Vor ihnen öffnete sich ein grandioses Panorama. Axis Mundi.

Die Stadt Lord Lichts, das Zentrum der Hölle.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.