Melmoth by Sarah Perry

Autor:Sarah Perry [Perry, Sarah]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Eichborn
veröffentlicht: 2019-04-05T09:00:07+00:00

ZWEITER TEIL

Karel Pražan

c / o John Bunyan House

Bedford

Liebe Thea,

wie du siehst, schreibe ich dir aus England. Es ist kalt hier, aber die Kälte hat nichts mit dem guten, klaren, tschechischen Frost gemein. Alles ist so nass, als hätte der ganze Ort wochenlang geweint. Seit wenigen Tagen bewohne ich ein Zimmer mit abwaschbaren rosa Wänden und rosa Rüschengardinen. Morgens serviert die Vermieterin Toast, der mich an weiße, aufgewärmte Wolle erinnert, dazu gibt es kleine, dünne Würstchen. Zu meinem Bedauern muss ich dir mitteilen, dass die Engländer zumindest meinem Auge nicht schmeicheln. Die Frauen haben dicke, schlecht durchblutete Beine mit blauen Krampfadern, die Männer tragen ungeachtet ihres Alters Jeans und Windjacke. Du bist, ich habe es immer geahnt, die Beste ihrer Art.

Meine gelehrte Freundin, ich schreibe dir, weil ich dich um Verzeihung bitten muss. Ich war wütend. Am liebsten würde ich Melmoth die Schuld geben, aber wir wissen beide, dass ein erwachsener Mann nicht wegen eines Märchens den Kopf verliert. Hattest du Angst, ich könnte glauben, sie existiere wirklich und wolle mich holen? Vielleicht habe ich das tatsächlich manchmal gedacht. Ich war oft betrunken und meistens schlecht gelaunt. Mein alter Freund war gestorben, Thea. Und schlimmer noch, du hattest mich verlassen! Man sagt, Lieb’ sei keine Liebe, die Trennung oder Wechsel könnte mindern. Es schmerzt mich, dir zu sagen, dass die englischen Dichter irren, denn wie könnte es wahr sein? Liebe verändert sich zwangsläufig, wenn die Geliebte sich verändert. Niemand steht im Winter unter nackten, schwarzen Ästen, wenn er grüne, Schatten spendende Blätter bewundern möchte. Ich liebe dich nicht mehr wie früher, weil du nicht mehr bist, wie du früher warst; und jetzt muss ich wissen, ob du mir eine Chance gibst, die neue Thea lieben zu lernen. Glaub nicht, ich hätte nicht jeden Tag an dich gedacht. Nimmst du deine Tabletten? Du solltest in das von mir angelegte Büchlein schreiben, welche Medikamente du wann eingenommen hast. Du bist stärker, als du glaubst. Wenn du nur etwas Vertrauen hättest, wärst du morgens in der Lage, dich ohne fremde Hilfe anzukleiden. Kümmert Helen sich um dich? Ich weiß, sie ist manchmal ein wenig unterkühlt, aber sie hat ein gutes Herz, beziehungsweise weiß sie um ihre Pflichten, was vielleicht noch besser ist.

Lass mich berichten, was ich getan habe, gerade tue und noch tun werde. Als ich dich verließ, war ich krank und verwirrt. Was haben wir da getrunken, Thea? Wie viele Flaschen? Manchmal habe ich den Eindruck, da wäre jemand bei uns gewesen, eine Gestalt in Schwarz, die uns Wein nachgeschenkt und mir, als du im Rollstuhl eingeschlafen warst, fürchterliche Sachen eingeflüstert hat. Aber in Wahrheit waren es nur der Durst und die Geschichten von Melmoth. Ich habe ein paar Kleidungsstücke in meine Reisetasche gepackt, bin in ein Taxi gestiegen und habe dem Fahrer gesagt, ich wolle nach England. Irgendwie stand England für alles, was du früher warst; fast hoffte ich, du würdest mich am Flughafen erwarten, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und jenem besonderen Lächeln, das mir allein gilt. Ich habe mich im Taxi übergeben und dem Fahrer einen Haufen Geld zahlen müssen.

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