Meines Vaters Pferde by Laar Clemens
Autor:Laar, Clemens [Laar, Clemens]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
*
Einmal, während sie las, hatte Nikoline Pratt bemerkt, wie das schwere und ungleichmäßige Atmen des Mannes immer gepreßter wurde, und wie es sogar zu einem leisen Röcheln anstieg. Sie hatte an Gunthermanns Warnung gedacht und sich mit beklommenem Herzen zum Weiterlesen gezwungen. Als sie jetzt endete, aber nicht wagte, die Augen vom Büchlein zu nehmen, weil sie ihr verschleiert erschienen, wurde ihr bewußt, daß sie zuletzt das Röcheln, ja sogar Jürgen Godeysen überhaupt vergessen hatte.
Nein, es war anders, mußte sie sich im gleichen Augenblick mit einer sachten Glutwelle vom Herzen her eingestehen. Sie hatte ihn nicht vergessen und auch sich selbst nicht. In einer nicht zu begreifenden Weise hatte sie auf einmal begonnen, sich mit ihrer Großmutter gleichzusetzen. Es war ihr vorgekommen, als schildere jemand etwas, was sie selbst unmittelbar vorher erlebt hatte.
Und das Reiterlein trug die Züge Jürgen Godeysens.
Es gehörte eine kleine absichtsvolle und gewaltsame Ernüchterung dazu, sich aus dieser absonderlichen Vorstellung zu lösen.
Das ist der ewige Backfisch in uns, sagte sie sich angreiferisch. Aber vielleicht sollten wir gar nicht so sehr über den Backfisch spotten...
Sie fand jetzt den Mut, zu Jürgen Godeysen zu blicken und war fast überzeugt, wieder denselben Ausdruck abgestorbener Teilnahmslosigkeit, bestenfalls eines bitteren Hohnes zu sehen.
Doch sie erschrak.
Es war zunächst ein sanfter und glückseliger Schreck, der sie tiefer atmen ließ, aber dann wurde er zur Verwirrung und zu geängstigter Unruhe.
Jürgen Godeysen lag mit geschlossenen Augen aber lächelnd wie ein Kind, das über seinem Märchen zur guten Nacht gerade an der Stelle eingeschlafen ist, da die wundersame und reiche Prinzessin sich dem armen und edlen Schweinehirten zuneigt.
Sie zuckte ein wenig zusammen, als Jürgen Godeysen, immer noch mit geschlossenen Augen und immer noch lächelnd, stockend aber sehr deutlich sagte:
„Sie müssen nicht erschrecken. Ich bin nicht eingeschlafen. Ich bin auch keineswegs dabei, in Schönheit zu sterben... Ich habe nur das getan, was mein alter Herr wohl gewünscht hat. Ich habe mir wie ein Kind sein Märchen angehört.“
„Aber es ist Wirklichkeit gewesen, Jürgen Godeysen.“
„Schon möglich. Bestimmt sogar. Und das eben ist das Märchenhafte... Daß es einmal eine Zeit gab, in der die Menschen so unwahrscheinlich stark von sich selbst und ihren Gefühlen eingenommen waren... Ihr ganzes Leben gehörte ihnen. Glückselige Menschen. Märchengestalten...“
Nikoline fühlte Zorn in sich aufsteigen. Sie glaubte plötzlich, die Stimme des alten Godeysen zu hören: Du bist obstinat, mein Junge...
„Diese Märchengestalten, Jürgen Godeysen“, sagte sie und spürte dabei, daß ihre Stimme bewegt klang, „diese glückseligen Menschen haben als ganze und als aufrichtige Menschen gelebt und gelitten. Und wie mein Großvater gehandelt hat, wie männlich und großartig, das ist Ihnen wohl ganz entgangen. Und wieviel Tapferkeit Ihr Vater hat aufbringen müssen, das alles zu verwinden... Daß meiner Großmutter das Herz gebrochen ist, alles das zählt nicht bei Ihnen. Das ist Märchen, nicht wahr? Was ist denn für Sie überhaupt echtes Leben, was erkennen Sie an?“
Jürgen Godeysen versuchte, den Kopf zu ihr zu wenden. Es gelang ihm ruckhaft, und sein Atem dabei wurde von fast unmerklichen rasselnden Tönen unterbrochen. Nikolines Zorn schlug in ein entsetztes Schuldbewußtsein um.
Um Gottes willen, dachte sie.
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