Meine wundervolle Buchhandlung by Hartlieb Petra

Autor:Hartlieb, Petra [Hartlieb, Petra]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832188160
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2014-11-07T00:00:00+00:00

Wer hätte gedacht, dass er irgendwann wieder freiwillig mit uns Weihnachten feiert? Dass der große Sohn mit uns im Weinviertel unterm Christbaum sitzen wird und einen auf Kleinfamilie macht?

Er war der Coolste seiner Klasse, ohne Eltern, ein paar Monate davon sogar allein in einer Wohnung auf St. Pauli, Reeperbahn in fußläufiger Nähe. Dass das ein schwerer Fehler war und zu Hunderten Fehlstunden geführt hat, haben wir viel zu spät gemerkt. Die Notbremse, in Form des Zusammenziehens mit ein paar Freunden, hat er selbst gezogen.

Ich erinnere mich an ein Telefonat vor ein paar Jahren: Er in Hamburg, ich in Wien, er allein in seinem WG-Zimmer in Altona, ich in der knallvollen Buchhandlung, umgeben von Kunden auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Da fällt ein Satz, der plötzlich alles andere ausblendet, der die Kunden in einem diffusen Nebel verschwinden lässt. »Ich schmeiß die Schule.« Tja. Und dann stehst du da, und dein ganzes Weltbild fliegt dir um die Ohren. Wie viel Zeit und Energie hast du in die Erziehung und Ausbildung des Kindes investiert? Gut, ich war nie eine Helikopter-Mom, dafür war ich einfach zu jung, und ich hatte nie Lust, meine ganze Energie in die Erziehung des Kindes zu stecken, aber natürlich habe auch ich mir immer den Kopf zerbrochen, was das Beste für ihn wäre: der richtige Kindergarten, Vorschule ja oder nein, das gesunde Pausenbrot, die Montessori-Schule oder doch die normale? Zu viel Fernsehen, zu viel Game Boy, zu viel Freiheit, zu wenig mit ihm gelernt oder doch zu viel gekümmert?

Obwohl wir mitten im Weihnachtsgeschäft sind, buche ich einen Flug nach Hamburg und fahre kurzerhand in die Bude, die er mit seinem Freund Leo bewohnt. Ich bin das erste Mal bei meinem Sohn auf Besuch und bestehe auf ein frisch bezogenes Bett. Er hat ein paar Freunde eingeladen, wir kochen zusammen Semmelknödeln mit Schwammerlsauce, und die Stimmung ist entspannt. Cool sind sie, seine Freunde, in Batik-Hosen, die Mädels mit Tüchern um den Kopf, die Jungs mit langen Haaren oder Dreads. Hätte es die schon zu meiner Jugendzeit gegeben, ich hätte genauso ausgesehen. Also, sie sind freakig, nett und politisch engagiert, und im Gegensatz zu meinem Sohn wollen sie Abi machen. Die eine will Ärztin werden, die andere Entwicklungshelferin, Leo will Kunst studieren und Jakob Lehrer werden. Nur meiner, der will nicht mitspielen in »der kapitalistischen Welt«, wie er so schön sagt, und für dieses Nicht-Mitspielen braucht er natürlich auch kein Abitur. Es wird viel diskutiert an diesem Abend, und zu meiner großen Freude sehen seine Freunde das ähnlich wie ich. Aussteigen ist ja ganz cool, aber bitte mit einem Abiturzeugnis in der Tasche. Nach und nach komme ich dahinter, dass der Antrieb für die Entscheidung eher nicht im Ausstieg aus der kapitalistischen Welt liegt, sondern in den vielen Fehlstunden und den Lücken im Stoff, die er in der elternlosen Zeit in Hamburg angesammelt hat. Gespräche mit Lehrern, mit Eltern seiner Freunde, ein Plan der jungen Leute, wer wann mit ihm lernt, und wir schaffen es, ihn zu überreden. Er macht sein Abitur! Er versucht es.

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