Meine Geschichte der deutschen Literatur: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (German Edition) by Marcel Reich-Ranicki
Autor:Marcel Reich-Ranicki [Reich-Ranicki, Marcel]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2014-09-25T16:00:00+00:00
Bertolt Brecht
Ungeheuer oben
Einen Streit um Brecht gibt es heute nicht mehr: Bald vierzig Jahre nach seinem Tod braucht man ihn, der einst die Gemüter erhitzte, nicht mehr zu verteidigen. Denn niemand greift ihn an. Es wiederholt sich, was nach dem Tod eines großen Dichters geradezu die Regel ist. Man kennt, so will es scheinen, immer nur zwei Möglichkeiten: die Monumentalisierung oder die Gleichgültigkeit, also den Aufstieg in die Legende oder den Abstieg in die Vergessenheit.
Wie immer sich unser Verhältnis zu Brecht verändert hat – aus dem Blickfeld haben wir ihn nicht verloren. Aber sein Nachruhm ist auf sonderbare Weise widerspruchsvoll: Er schwindet und wächst dennoch. Und wir können heute besser denn je erkennen, dass der Begriff »klassisch«, der, eine Charakteristik und eine Definition anbietend, stets auch auf die Rangordnung abzielt, ihm wie keinem anderen Poeten unseres Jahrhunderts gebührt.
Im Zusammenhang mit Brecht taucht dieser Begriff schon sehr früh auf – und der ihn 1921 ins Gespräch bringt, ist kein anderer als er selber. Der Dreiundzwanzigjährige notiert in seinem Tagebuch, er beobachte, dass er anfange, »ein Klassiker zu werden«. Das ist eine freche Bemerkung. Doch scheint sie mir ernst gemeint: In dem übermütigen Befund verbirgt sich das Programm des Anfängers. Da ist einer entschlossen, die Welt zu erobern.
Nach seinem Tod war es zunächst Max Frisch, der ihn einen Klassiker nannte – freilich gleich mit einer wichtigen Einschränkung. Er bescheinigte dem Stückeschreiber Brecht »die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers« – was wohl heißen soll: enormer Erfolg, aber keine reale Wirkung. Das mag zutreffen, nur müsste man noch klären, welchem Dramatiker der Weltliteratur sich beweisbare Wirkung nachrühmen ließe.
Hat Strindberg etwa das Eheleben der Bürger gebessert? Hat Gogols »Revisor« die Bestechlichkeit im zaristischen Russland gemindert? Haben die Tragödien und Historien Shakespeares auch nur einen einzigen Mord verhindert? Fragen wir ganz ungeniert, Brechts Lieblingsverbum verwendend: Hat Shakespeare die Welt verändert? Aber ja, er hat sie sehr wohl verändert, doch nur, indem er, ähnlich wie Mozart oder Schubert, zur vorhandenen Welt sein Werk hinzugefügt hat.
In unzähligen Ländern haben Millionen von Zuschauern Brechts Stücke gesehen. Dass aber einer dadurch »seine politische Denkweise geändert oder auch nur einer Prüfung« unterzogen hätte, wagt Frisch – es war 1964 – zu bezweifeln. Er zweifelt sogar, dass Brecht an die erzieherische Wirkung seines Theaters tatsächlich geglaubt habe. In den Proben hatte er, Frisch, den Eindruck: Auch der Nachweis, dass sein Theater nichts zur Veränderung der Gesellschaft beitragen könne, hätte Brechts Bedürfnis nach Theater nicht beeinträchtigt.
Er selber sagte, er stelle sich oft ein Tribunal vor, dem er die Frage beantworten müsse, ob es ihm »eigentlich ernst« sei: »Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte.« Walter Benjamin hat diese aus dem Jahre 1934 stammende Äußerung überliefert – und es ist wohl eine Schlüsselstelle, eine der bedeutsamsten.
Wenn etwas Brechts Leben auszufüllen vermochte, dann war es nicht die Ideologie oder die Politik, vielmehr war es jenes Steckenpferd seiner Jugend, das rasch zu einer Passion wurde und es bis zu seinen letzten Tagen blieb: das Theater.
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