Martin Luther by Kaufmann Thomas
Autor:Kaufmann, Thomas [Kaufmann, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406698880
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Lucas Cranach d. Ä., «Das Alte und das Neue Testament», Holzschnitt, um 1529
Freilich stand Luthers Bibelübersetzung nicht am Anfang seines reformatorischen Weges und ist erst als Ergebnis bestimmter Herausforderungen angemessen zu verstehen. Luther ist nicht einmal der erste im Wittenberger Kreis gewesen, der öffentlich die Forderung nach einer volkssprachlichen Laienbibel erhoben hatte. Dieser Ruhm gebührt Karlstadt, der seit 1519 für die Laienbibel agitierte und sich damit bewusst an Erasmus von Rotterdam anschloss, jenen humanistischen Kirchenreformer, der wie kein zweiter für die Bibellektüre der Laien eingetreten war. Durch Erasmus’ bahnbrechende Edition des griechischen Neuen Testamente im Jahre 1516 war die Notwendigkeit, exegetische Urteile am Urtext zu verantworten, unabweisbar geworden, und seit dem Frühsommer 1521 waren nach und nach Teilübersetzungen einzelner biblischer Schriften erschienen, die auf dem griechischen Text oder der lateinischen Neuübersetzung des Rotterdamers basierten. Diese vorlutherischen Teilübersetzungen des Neuen Testamente waren wohl mehrheitlich bereits vom Geiste Wittenbergs erfüllt. Indem Luther sich an die Spitze der immer breiter werdenden, insbesondere vom städtischen Bürgertum gestützten Bewegung für die Bibel in der Volkssprache stellte, gab er ihr eine neue Richtung. Denn ihm lag an der deutschen Bibel – im Unterschied zu Karlstadt – nicht, um mit ihr geistlich autonome Laien als Subjekte der Kirchenreform zu mobilisieren. Auch ging es ihm nicht, wie Erasmus, primär darum, durch den Konkurrenzdruck der Laien den Bildungsdrang des Klerus zu stimulieren und seine Reformwilligkeit zu verbessern. Luther wollte den Glauben an das Evangelium ermöglichen und durch Gottes Wort selbst befördern. Im Unterschied zu den Teilübersetzungen wollte er dies durch eine vollständige Ausgabe des Neuen Testaments gewährleisten. Und mit Hilfe seiner Einleitungen zum Neuen Testament und zu den einzelnen Schriften, die er seiner Ausgabe voranstellte, wollte er die Laien in den Stand setzen, zwischen Schale und Kern, Gesetz und Evangelium, Christus und der Welt zu unterscheiden.
Luthers Hermeneutik des Neuen Testaments, die er in seinen Vorreden entfaltete, widersprach auch der Schriftlehre seines Fakultätskollegen Karlstadt, für den der Jakobusbrief, der eine Gerechtigkeit aus Werken lehrt, aufgrund des Umstands, dass er im kirchlichen Kanon rezipiert worden war, gleichwertig neben Paulus, dem Apostel der Glaubensgerechtigkeit, stand. An der Frage der Geltung des Jakobusbriefes wird der erste Riss innerhalb der frühreformatorischen Wittenberger Theologie, zwischen Luther und Karlstadt, sichtbar. Unter den vielen, die Luthers programmatischem Grundsatz «allein die Schrift» (sola scriptura) zustimmten, gab es nicht wenige, die ihn anders verstanden als er. Karlstadt war der erste von ihnen.
Luthers Plan zu einer Übersetzung des Neuen Testaments, das der «wahren Kirche» in ihrem Kampf gegen den römischen Antichristen Halt und Trost vermitteln sollte, fiel – wie es scheint – während eines kurzen Besuchs, den er Anfang Dezember 1521 von der Wartburg aus Wittenberg abstattete. Melanchthon drängte ihn dazu, einerseits, weil die kursierenden deutschen Teilübersetzungen das Neue Testament zu zerreißen drohten und vor allem die Paulusbriefe, die wichtigsten Referenztexte Luthers, in den Hintergrund treten ließen (WA 48; 448,2–6; WATr 1; 487,11f; WADB 6; XXXII; WABr 2; 413,6f), andererseits, weil er im Zuge der seit dem Sommer 1521 aufbrechenden Wittenberger Bewegung massiv mit dem neuartigen Phänomen eines vom äußeren Schriftwort unabhängigen Laienprophetismus konfrontiert worden war.
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