Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben by Sommer Beate

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben by Sommer Beate

Autor:Sommer, Beate [Sommer, Beate]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: emons Verlag
veröffentlicht: 2013-12-28T16:00:00+00:00


9

Paul Zinkel schnupperte. Der Geruch war noch der gleiche wie vor annähernd dreißig Jahren. Muffig irgendwie, leicht säuerlich? Es roch nach Schule, präziser ließ sich das nicht definieren, heute wie damals, ein spezifischer Geruch, der Disziplin und Lärm und Pausenbrote beinhaltete, Kreidestaub und Turnschuhe, Angst und Euphorie. Die eigene Schulzeit kam ihm vor wie gerade erst vergangen, und er fragte sich, warum kein anderer Geruch es schaffte, ihn so weit in der Zeit zurückzuversetzen.

Lübben schien es ähnlich zu gehen. Er stand mit geblähten Nasenflügeln neben ihm, den Blick auf eine der Säulen gerichtet, an deren oberem Ende Plastiken eingearbeitet waren. Zinkel traute seinen Augen kaum, ein Truthahn?

»Cholerikus«, erläuterte Lübben. »Weiß ich noch, weil einer unserer Lehrer nicht nur aussah wie ein Puter, sondern obendrein ziemlich cholerisch war. Warte mal«, schob er hinterher, »der Bär ist phlegmatisch, wenn ich mich recht erinnere. Kommt ganz nach mir. Judiths Meinung.«

»Na dann los, du Faulpelz«, sagte Zinkel und begann, hinter einem der letzten Nachzügler aus der großen Pause die Stufen zu erklimmen. »Wenn du mir die übrigen Bilder erklärst, gibt’s Fleißpunkte.«

Lübben folgte gemächlich. »Kopfnote«, maulte er exakt im Tonfall eines gelangweilten Schülers.

Sie erreichten den Raum, in dem gerade der Deutsch-Leistungskurs unterrichtet wurde, der einzige Kurs, den Kathrin, Antonia und Jenny gemeinsam besucht hatten. Lübben klopfte kurz und öffnete die Tür, ohne auf eine Reaktion zu warten, und das Stimmengewirr, das von draußen zu hören gewesen war, verstummte augenblicklich. Die Schüler folgten ihnen mit Blicken, ein paar fixierten angestrengt den Fußboden. Die Lehrerin, kaum älter wirkend als ihre Zöglinge, stopfte ein zerknülltes Taschentuch in ihre Jeans und rang sichtlich um Fassung.

»Ja, moin«, sagte Lübben, »ich bin Hauptkommissar Enno Lübben, das ist mein Kollege Paul Zinkel. Ich sehe, ihr wisst Bescheid, dass eure Mitschülerin Kathrin Engelbrecht ums Leben gekommen ist?«

Starre allenthalben, nur eine zierliche Brünette in der ersten Reihe deutete ein Nicken an. Zinkel holte sein Notizbuch hervor und skizzierte den Sitzplan.

»Soll ich lieber gehen?«, flüsterte die Lehrerin ihm ins Ohr.

Zinkel schüttelte den Kopf und bat sie mit Gesten, seine Zeichnung mit Namen zu versehen. Sobald sie damit fertig war, schickte er sie zurück an ihren Platz und markierte die Namen der Schüler, die keinen Blickkontakt hielten und so versuchten, möglichst wenig aufzufallen. Als würde man nicht gesehen, wenn man selbst nicht sieht: das typische Verhalten kleiner Kinder, nur unwesentlich weiterentwickelt. Körpersprache für Anfänger.

»Wer von euch kann mir mehr über Kathrin erzählen?«, fragte Lübben.

Das große Schweigen, wie nicht anders zu erwarten.

»Okay, dann mal Klartext«, hob Lübben an. »Kathrin wollte Selbstmord begehen. Dafür hatte sie eine Menge Gründe, und ganz viele davon liegen bei euch und eurem Verhalten.«

»Sagt wer?«, fragte die Brünette.

»Ruhe!«, blaffte Lübben, »ich bin noch nicht fertig. Tatsächlich ist es nämlich so, dass Kathrin sich nicht selbst umgebracht hat. Sie wurde ermordet.« Er legte eine Kunstpause ein, bevor er fortfuhr. »Einem oder mehreren hat es nicht gepasst, dass Kathrin es sich anders überlegt hatte.«

»Sie ist doch tot, sagten Sie, woher wollen Sie dann wissen, dass sie es sich anders überlegt hat?«

Wieder die Brünette, Zinkel schaute auf seinen Plan, Silke Mangold, Sitznachbarin Jennys, doch deren Platz war heute verwaist.



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