Marianengraben by Jasmin Schreiber
Autor:Jasmin Schreiber [Schreiber, Jasmin]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Lübbe AG
veröffentlicht: 2019-03-14T16:00:00+00:00
5990
»Ja, hallo? Halloooo?«
Ich kniff meine Augen zusammen und blinzelte gegen das Sonnenlicht an, das in mein kleines Zelt strömte.
»Was, was ist …«
»Ich dachte, ich wecke Sie mal. Nackt werden Sie ja wohl nicht sein bei der Kälte, hehe.«
Helmut hatte den Kopf in mein Zelt gestreckt, plötzlich tauchte neben ihm Judy auf und stakste durch die Öffnung hinein. Ich tastete umher, fand warme Federn und zog Lutz schnell an mich, wobei sie leise gackernd protestierte.
»Ich bin ja schon wach, wie spät ist es?«
»Fünf Uhr dreißig«, strahlte Helmut mich an.
»Was?!«
»Ja ich hab noch was vor. Ich hatte da so eine Idee …«
»Nehmen Sie Judy weg, ich komme raus.«
»In Ordnung!«
Die Zeltplane fiel wieder zu und wurde vom Wind leicht hin und her bewegt.
Ich hatte in der Nacht von dir geträumt und hatte das Gefühl, noch nicht wieder richtig aus dieser (unserer) Welt zurückgekehrt zu sein. Im Traum ritten wir auf einer riesengroßen Libelle, auf so einer, wie man sie auf Zeichnungen in Naturkundemuseen sieht. Libellen mit Flügelspannweiten von fast einem Meter, doch die in meinem Traum war noch größer – sie war wie ein fliegender, schillernder Bus.
Wir hielten uns aneinander fest und der Sonnenuntergang leitete zur Nacht über, die Sterne strahlten am Himmel und wir flogen durch eine Stadt, die fast nur aus Lichtern zu bestehen schien. War es Frankfurt? Ich wusste es nicht. Der Wind wehte in mein Gesicht, ich schloss die Augen und fühlte mich frei. Du hast gen Himmel gejauchzt vor Freude, du wolltest die Sterne umarmen und hast geschrien, dass du der größte Entdecker der Welt seist, du hast gefuchtelt, gewunken, gestrahlt. Doch irgendwie ist plötzlich alles gekippt. Die Lichter gingen mit einem Schlag aus, die Stadt lag im Dunkeln unter uns, die Hochhäuser wurden nur vom kalten Licht des Mondes und der Sterne beschienen, die Straßen waren nicht zu erkennen, aber irgendwoher wusste ich, dass niemand mehr da war. Du hast auf einmal gesagt: Komm mit, komm mit, Paula. Und ich habe gesagt: Ich bin doch da. Aber du hast nicht aufgehört, diese Worte immer wieder zu wiederholen, bis du dabei geweint hast. Komm mit, hast du geschluchzt, und: Ich kann nicht ohne dich da hin, bitte! Und dann bist du gefallen, ich weiß nicht, wie das passieren konnte, du hattest doch gerade noch in meinen Armen gelegen. Du fielst und die Libelle flog gnadenlos mit mir weiter, ich schrie, dann sprang ich – und dann erinnere ich mich an nichts mehr.
Früher hatte ich kaum Albträume, seit deinem Tod habe ich ständig welche. Einmal träumte ich, du wärest aus deinem Grab gekrochen und hättest mich angebrüllt, wieso ich nicht da gewesen sei. Und ich hielt mir die Augen zu, um dein halb verfaultes und aufgefressenes graues Gesicht nicht sehen zu müssen, aber ich wachte erst auf, als du deine Hände um meinen Hals gelegt und zugedrückt hattest, weil du mich holen wolltest. Weil du nicht allein da unten sein konntest im schwarzen Nichts, weil ich zu dir kommen sollte. Ich wünschte, es würde irgendwie gehen. Ich wünschte, du könntest mich irgendwie zu dir holen, weil ich diese Welt schon so lange nicht ertrug.
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