Manon Lescaut by Antoine-François Prévost d'Exiles
Autor:Antoine-François Prévost d'Exiles [Prévost d'Exiles, Antoine-François]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-06T05:00:00+00:00
Zweiter Teil.
Es ist etwas Wunderbares in der Art, wie die Vorsehung unsere Schicksale aneinanderkettet. Kaum waren wir fünf oder sechs Schritte gegangen, als ein Mann, dessen Gesicht ich nicht einmal sehen konnte, Lescaut erkannte. Offenbar lauerte er schon in der Nähe seiner Wohnung herum in der traurigen Absicht, die er jetzt auch ausführte.
»Das ist Lescaut«, sagte er, indem er eine Pistole auf ihn abfeuerte. »Heute kann er mit den Engeln zu Abend speisen.«
Er entfloh sofort, und Lescaut fiel ohne das mindeste Lebenszeichen zu Boden. Ich drängte Manon, zu fliehen, denn unsere Hilfe wäre bei einer Leiche unnütz gewesen, und ich fürchtete, von der Wache, die bald erscheinen mußte, verhaftet zu werden. Ich machte mich mit ihr und dem Diener durch die erste kleine Seitenstraße davon.
Sie war fast von Sinnen, und ich hatte Mühe, sie zu stützen. Endlich bemerkte ich am Ende der Straße eine Droschke, in die wir einstiegen. Als mich aber der Kutscher fragte, wohin er uns fahren sollte, wußte ich keine Antwort. Ich hatte keinen sicheren Zufluchtsort, keinen vertrauten Freund, an den ich mich wenden durfte. Der Schrecken und die Müdigkeit hatten Manon derart überwältigt, daß sie halb ohnmächtig neben mir saß. Außerdem war mein Denken ganz von der Ermordung Lescauts erfüllt, und ich fürchtete auch noch immer die Wache. Welchen Entschluß sollte ich nur fassen?
Zum Glück erinnerte ich mich an den Gasthof in Chaillot, in dem ich einige Tage mit Manon verbracht hatte, als wir in dieses Dorf gegangen waren, um dort zu wohnen. Ich hoffte hier nicht nur in Sicherheit zu sein, sondern auch einige Zeit wohnen zu können, ohne zum Zahlen gedrängt zu werden.
»Bringe uns nach Chaillot«, sagte ich zum Kutscher.
Er weigerte sich, für weniger als eine Pistole so spät dahin zu fahren, was mich aufs neue in Verlegenheit setzte. Endlich einigten wir uns auf sechs Franken, es war das ganze Geld, das ich in der Tasche hatte.
Ich tröstete unterwegs Manon, aber in Wirklichkeit war ich innerlich selbst verzweifelt. Ich hätte mir auch tausendmal den Tod gegeben, wenn ich nicht das einzige, was mich am Leben festhielt, in meinen Armen gehalten hätte. Nur der Gedanke an sie hielt mich aufrecht.
»Ich habe wenigstens sie«, sagte ich mir. »Sie liebt mich, sie gehört mir an. Tiberge hat gut sagen, daß das nur ein Scheinbild des Glückes sei. Ich könnte ruhig zusehen, wie die ganze Welt unterginge. Warum? Weil mir alles außer ihr gleichgültig ist.«
Mein Gefühl war wirklich so. Trotzdem aber war es mir in demselben Augenblick, da ich mir so wenig aus allen Gütern der Erde machte, doch klar, daß ich wenigstens einen kleinen Teil von diesen Gütern besitzen müßte, um den ganzen Rest um so stolzer zu verachten. Die Liebe ist stärker als der Überfluß, stärker als alle Schätze und Reichtümer, aber sie braucht doch ihre Hilfe, und nichts kann einen zartfühlenden Liebhaber so in Verzweiflung setzen, als wenn er sich dadurch wider Willen zu der Roheit der gewöhnlichsten Menschen herabgezogen sieht.
Es war elf Uhr, als wir in Chaillot ankamen. Wir wurden in dem Gasthof als alte Bekannte aufgenommen.
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