Man darf nicht leben wie man will by Gerhard Fritsch
Autor:Gerhard Fritsch
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Residenz Verlag
veröffentlicht: 2019-03-11T16:00:00+00:00
Gleichenberg, 1. Mai 1964
Stille, fast keine Auto mehr. Vollkommene Einsamkeit am Ende des ersten Tages. Seit Nachmittag innere Ruhe wie seit Monaten nicht. Das habe ich nicht erwartet, eher die gestrige Irritation nach der Ankunft, die nervöse Erschöpfung, die betörende Wehmut des duftenden Höschens. Ich weiß, daß ich den Rüschen verfallen bin – aber was macht es aus? Heute nichts mehr.
Vormittag war ich noch zittrig, verloren in der großen Veranda, bei Blechmusik und vorbeigehenden roten Nelken, im Kurpark, in soviel strahlendem Grün, beim Bahnhof wurde es besser, ich staunte, daß der Graben vom 2. November so breit und ziemlich voll Wasser ist. Das Heim der Versicherungsanstalt: ich weiß noch das Fenster. Im Grazerhof Willi mit schnellen Bewegungen und blauem Bartboden. Dann Krleža durch fast fünf Stunden. Leider nicht fertig. Noch nicht der Roman, aber er wird, wenn die Windstille anhält, möglich sein. Vom Lyrikartikel habe ich noch kein Gefühl, außer die Erinnerung an das vergebliche Ansetzen und Hinausschieben in den letzten Tagen.
Kaum zu glauben, daß es erst gestern war: das Theresianum mit seinen Gängen, den Lehrern und den zweihundert Burschen, über deren Köpfe ich Phrasen sagte, unsicher, um eine Loyalität bemüht, die niemand verlangt hat; Loyalität gegen die österr. Literatur und das Vaterland. Gestern: der schrecklich kurze Abschied und die Fahrt zwischen greller Sonne und Düsternis. Zwischen Hetzendorf und Liesing hagelte es. Graz voll Menschen, eng wie noch nie, ich fiebrig und fremd, die Jagd nach dem Grotesken. Der Zug nach Feldbach voll, bedrohlich degeneriertes Landvolk, besoffen und abgerackert. Mit meiner Weiberseele, die ich allmählich bejahe, solidarisiere ich eher mit den Kittelträgerinnen zwischen 12 und 80. Was für ein stumpfes Gesindel sind diese Männer mit den Bierflaschen und ihren immer gleichen Renommiergeschichten! Ich versteh sogar Bärbels Angst vor solchem »Volk«, mit dem ich immer sympathisiert habe – eine sentimentale Lehrerin, die zufällig mit Hoden auf die Welt gekommen ist und deshalb keine schöngeistige Frauenrechtlerin sein kann. Wenn ich nicht »ironisch« bin, wie B. meint, verwende ich ja mehr als genug ähnliches Vokabular. Im »Moos« ganz naiv und unwissend. Und B. meint immer noch, daß sie potentiellen Grund zur Eifersucht hat! Wahrscheinlich ist es auch schwer, sich vorzustellen, daß ein Mann auch von den Attributen des weiblichen Daseins – bis zum Mieder und den »Rüscherln« – fasziniert ist, als wäre er eine an Mode, Strickmustern und Wohnungseinrichtung interessierte Durchschnittsfrau der »gebildeteren« Stände. In diesem Moment fällt mir meine deutlichste Identifikation mit einer Märchengestalt ein: das Aschenbrödel. Naja …
Warum ich das alles schreibe? Ein Fetischist vor dem Spitzenhöschen seiner Frau? Es ist außerdem auch nicht recht artikulierbar, alles wie ein Blick in den Spiegel mit Selbstporträtgesicht, das so oder so immer Pose wird. Ich müßte – und werde hoffentlich einmal – so schreiben wie Thomas Bernhard. Ob das mit einer Lehrerinnenpsyche geht, ist allerdings eine Frage. Thomas ist ein bäuerlich dekadenter Narziss, das ist besser als ich mit meinem Hang zu Objektivität, »Sicherheit«, Unauffälligkeit und den Schüben von Verantwortungsbewußtsein, Pflicht etc., etc. Er an meiner Stelle?
»Draußen« knallt die Tür eines Lastautos, eine weibliche Stimme »steiert« animiert.
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