Maigret - 62 - Maigret und das Gespenst by Simenon Georges
Autor:Simenon, Georges [Georges, Simenon]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-24T04:00:00+00:00
5
Das Graffitizimmer
In diesem Augenblick vollzog sich etwas, was Maigret nicht zu benennen vermocht hätte, ein Wechsel des Tonfalls oder eher eine atmosphärische Veränderung, die den Gesten, Worten und Haltungen unvermittelt mehr Gewicht verlieh. Lag es an der Anwesenheit der noch immer in ihr seltsames Gewand gehüllten jungen Frau oder am Fluidum des Raumes?
In einem weißen Marmorkamin von gewaltigen Ausmaßen tanzten die Flammen eines knisternden Holzfeuers.
Der Kommissar begriff jetzt, warum die Vorhänge des Ateliers, das man von Marinette Augiers Wohnung aus sah, fast immer zugezogen waren. Das Atelier war nicht nur an einer, sondern an zwei Seiten verglast, so dass man den Lichteinfall nach Wunsch verändern konnte.
Die Vorhänge aus dicker, schwarzer Jute waren vom Waschen grau geworden und eingegangen, so dass sie nicht mehr ganz schlossen. Auf der einen Seite sah man über die Dächer bis nach Saint-Ouen. Auf der anderen überblickte man – jenseits der Windmühlenflügel des ›Moulin de la Galette‹ – fast ganz Paris mit den geraden Linien seiner Boulevards, der breiten Schneise der Champs-Élysées, den Windungen der Seine und der goldenen Kuppel des Invalidendoms.
Maigret war hell wach, aber es war nicht das Panorama, das ihn faszinierte. Eine fremde Umgebung, in die man sich mit einem Mal hineinversetzt sieht, lässt sich nur schwer bis ins Detail erfassen, und doch erging es ihm ein wenig so.
Alles fiel ihm zugleich ins Auge, die beiden nackten, kalkweißen Wände beispielsweise und in der Mitte der einen die im Kamin züngelnden Flammen.
Madame Jonker hatte gemalt, als die beiden Männer eingetreten waren. Hätten demnach nicht Bilder an den Wänden hängen müssen? Und hätten nicht, wie in jedem anderen Maleratelier, auch am Boden lauter Bilder stehen müssen? Der lackierte Holzboden aber war ebenso nackt wie die Wände.
Neben der Staffelei stand ein kleiner, runder Tisch mit einer Schachtel voller Farbtuben.
Auf einem zweiten Tisch in der Nähe, einem weißen Holztisch, dem einzigen profanen Gegenstand, den Maigret bisher im ganzen Haus erblickt hatte, sah man ein wirres Durcheinander von Farbtöpfen, Blechdosen, Flaschen und Stofflappen.
Das Mobiliar vervollständigten zwei antike Schränke, ein Stuhl und ein mit schon leicht aus geblichenem braunem Samt bezogener Sessel.
Dass an all dem etwas nicht stimmte, ahnte er vorerst nur, doch er war alarmiert und wurde erst recht hellhörig, als der Holländer zu seiner Frau sagte:
»Der Kommissar ist nicht gekommen, um meine Bilder zu bewundern, sondern, so seltsam es erscheinen mag, um über Eifersucht zu sprechen. Es wundert ihn offenbar, dass nicht alle Frauen eifersüchtig sind …«
Das hätte eine belanglose kleine, ironische Bemerkung sein können. Für Maigret aber war es eine Warnung, die Jonker seiner Frau übermittelte, und er hätte schwören können, dass sie ihm den Empfang der Botschaft durch einen Lidschlag bestätigte.
»Ist Ihre Frau eifersüchtig, Monsieur Maigret?«
»Ich muss gestehen, Madame, ich hatte noch keinen Anlass, mir diese Frage zu stellen.«
»In Ihrem Büro gehen doch sicher viele Frauen ein und aus.«
Täuschte er sich? Er glaubte erneut, eine Art Signal wahrzunehmen, das aber in diesem Fall ihm selbst galt.
Der Eindruck war so stark, dass er begann, sein Gedächtnis zu durchforschen und sich zu fragen, ob er die Frau, die vor ihm stand, nicht schon am Quai des Orfèvres gesehen hatte.
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