Macht und Widerstand. Roman by Ilija Trojanow

Macht und Widerstand. Roman by Ilija Trojanow

Autor:Ilija Trojanow [Trojanow, Ilija]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104036045
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-07-08T17:00:00+00:00


Beschuldigter:

Ermittlungsbeamter:

Stimmt mit dem Original überein,

Sekretär:

Konstantin

Es ist Sonntag.

Das Gegenteil von Schlaf ist Unschlaf. »Wachsein« klingt wie eine ferne Verheißung. Wenn mir das Warten auf den Morgen unerträglich wird, breche ich in das Museum meiner eigenen Träume ein, entwende eines der Exponate aus der Vitrine.

Es war Sonntag.

Ich gehe zwischen zwei Baracken hindurch. Ich höre Schreie. Ich öffne die Tür. Ich sehe Lenin, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Drei Blaumützen treten ihn, bespucken ihn. Lenin liegt auf dem Rücken, der Bart steif nach oben gerichtet. Auf einmal hält er einen Revolver in der Hand. Er schießt. Die drei kopoi stürzen zu Boden. Ich befreie Lenin von seinen Fesseln. Wir rennen auf den Zaun zu. Sirenen jaulen auf. Ich drehe mich um, ich sehe wie Lenin von einer Kugel in den Rücken getroffen wird. Bis hierher konnte ich dir helfen, entschuldige ich mich, mehr geht nicht. Ich springe über den Stacheldraht …

Draußen ist Nebel, Schneeregen, Ausgemergelte, die früh zum Deich stapfen, durchnässt, fröstelnd, vier Kilometer weit, auf Stöcke gestützt.

Wenn einer vor dir hinfällt, fällst auch du hin.

Reißt andere hinter dir mit.

Vom Pferd herab schlägt dir die Peitsche auf den Rücken.

Hinfallen ist verboten.

Wir sind alle krank.

Zum Morgenappell aufgestellt.

Zur Arbeit am Deich eingeteilt.

Der Deich wird niemals fertig werden.

Unsere Krankheiten werden niemals heilen.

Von Kranken wird die doppelte Norm gefordert.

Wir werden arbeiten, bis wir die Norm erfüllt haben.

Wir können uns kaum noch auf den Beinen halten.

Die Norm ist der Tag.

Sie teilen aus: Schaufel, Hacke, Schubkarren, Tragen.

Erde ausheben, verladen, aufwerfen, zusammenstampfen.

Nasse Erde ist schwer.

Wie kam die Norm zustande? Irgendein Inspektor riss einem der konzlageristen die Hacke aus der Hand, begann umzugraben, hackte auf die Erde ein mit ganzer Wucht, eine Minute lang, hielt inne, ließ abmessen, wie viel er umgegraben hatte, rechnete diese Leistung hoch auf die Stunde, auf den Tag.

Das Leben ist wertvoll, nutzlos treibt es die Donau hinab.

Der Tod kommt unvermittelt, nebenher, steht nie im Mittelpunkt, es hustet einer, der schon oft gehustet hat, es seufzt einer wie unzählige Male zuvor, über uns treiben die Wolken flüchtig dahin, verdunkeln die Sonne für Augenblicke, ein Blick auf die Blasen an den eigenen Händen, einer sinkt, einer fällt auf die Knie, das Gesicht im Matsch, ein letztes Ausatmen. Das war’s. Kein Aufsehen, keine Aufregung. Er ist dahin, der eine, der andere. Zuweilen sehen wir den Tod nahen wie die Klatsche über einer flügellahmen Fliege. Einer bricht zusammen. Sein Gesicht dunkel angelaufen. Seine Galle, seine Leber entzündet. Wir versuchen ihn aufzurichten. Hinter uns Pferdehufschlag. Die Erfahrenen murmeln: »Der macht’s nicht mehr lang.«

Oder: »Der ist bald dahin.«

Ein jeder blickt auf seinen eigenen Kadaver hinab.

Bei der Rückkehr ist uns die Landschaft gram. Eine entflammte Wolke taucht in die verschmierte Donau. Brandstiftung am Horizont. Schatten kriechen von überall heran. Wir ziehen unsere Beine hinter uns her, einer hinter dem anderen. Vorn ein Peitschenmann, hinten ein Peitschenmann. Ein jeder von uns in seinen Schmerzen eingesperrt. Ich stürze. Janko bleibt neben mir stehen. Auch er am Ende seiner Kräfte. Er reicht mir die Hand. Er zieht mich hoch. Auf seiner Hand Blut. Wir erreichen eine Lichtung.



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