Lost and Sound by Rapp Tobias

Lost and Sound by Rapp Tobias

Autor:Rapp, Tobias [Rapp, Tobias]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-05-14T22:00:00+00:00


Schlange stehen. Ins Berghain gehen.

Nie wieder nach Hause wollen. Der Samstag

Wann genau ist eigentlich Samstag? Fast alle Clubs machen um Mitternacht auf, am Ausgehsamstag ist also immer schon Sonntag. Die Zeit vorher muss man herumbringen, in Bars, auf der Straße, wenn es gar nicht anders geht, auch zu Hause. Wer in einer Samstagnacht vor ein Uhr in einen Club geht, landet unweigerlich auf einer leeren Tanzfläche, die von einem DJ bespielt wird, der genau weiß, dass niemand um diese Zeit tanzen will, und der deshalb Musik spielt, zu der auch niemand tanzen würde, wenn denn jemand da wäre. Ist aber nicht. Die Leute stehen vor der Tür. In der Schlange.

Das ist überall so, vor allem aber vor dem Berghain. Lang und diszipliniert zieht sie sich durch den märkischen Sand. Ganz hinten eingegrenzt von Baustellengittern, in der Nähe der Tür dann s-förmig von Stahlsperren in eine raumsparende Form gebracht, als wollten die Leute in ein anderes Land einreisen. Wollen sie auch, gewissermaßen. Gemeinhin geht man ja davon aus, das Warten vor einer Clubtür habe etwas mit dem Anspruch auf Exklusivität zu tun, den der jeweilige Laden geltend mache. Ein Glaube, der wahrscheinlich noch immer fernes Echo des gequälten Stöhnens all derjenigen ist, die in den späten Siebzigern einmal darauf warteten, in das New Yorker Studio 54 hereingelassen zu werden, die berühmteste Discothek des 20. Jahrhunderts. Dort stellte das Schreckensregime des Türstehers jene Mischung aus Celebrity, Geld, Schönheit und Jugend her, um die sich auch heute noch einige Sehnsüchte ranken. Man wurde herangewunken, um hineingelassen zu werden - oder eben nicht, dann musste man dabei zuschauen. Was sich den Rest der Nacht hinziehen konnte, es zwang einen ja niemand, dort auszuharren, außer die schiere Attraktivität aufmerksamkeitsökonomischer Macht, die das Nachtleben von Städten regiert, in denen Berühmtheit, Reichtum und Geschmack zusammengehören. Was in Berlin nicht der Fall ist.

Tatsächlich endeten ausnahmslos alle Versuche von Clubbetreibern in den Neunzigern, eine Discothek aufzumachen, die nach diesem Prinzip funktioniert, im Fiasko. Geschmack und Geld gehören in Berlin eben nicht zusammen, sieht man einmal von der Kunstszene ab. Diese jedoch hat ihre einstmals enge Allianz mit den Techno- und Houseclubs gemeinsam mit der Idee, jede Vernissage bräuchte unbedingt einen DJ, seit den Neunzigern fast völlig aufgegeben. Heute treffen sich Künstler, Galeristen, Sammler und Kritiker lieber in einigen Restaurants und Bars in Berlin-Mitte. Dort ist dann auch der einzige Laden, dessen Tür entfernt an das Studio-54-Prinzip erinnert: das Cookies Unter den Linden.

All diese Gedanken kann man sich machen, wenn man in der berühmten Schlange vor dem Berghain steht. Erster und wichtigster Unterschied zu allen anderen Schlangen: Sie ist für alle da. Es gibt zwar auch hier eine Gästeliste, aber die ist vergleichsweise kurz und hat keinerlei symbolische Bedeutung. Wer draufsteht, muss trotzdem warten, er bezahlt nur nichts. Allein die DJs der Nacht und ihre Entourage können an der Schlange vorbeispazieren, dazu noch einige Leute, die dem Berghain besonders verbunden sind. Was aber nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Vielleicht drei oder vier kleine Grüppchen pro Stunde ziehen an einem vorbei, mehr nicht.



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