Loreley (German Edition) by Meyer Kai

Loreley (German Edition) by Meyer Kai

Autor:Meyer, Kai [Meyer, Kai]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: MiMe books
veröffentlicht: 2013-12-12T23:00:00+00:00


In der Nacht träumte Ailis vom Lurlinberg.

Im Mondlicht sah sie ihn vor sich, eine steile Felsnase, finster vor einem pechschwarzen Himmel. Über ihm, im Abgrund der Nacht, regte sich etwas. Ein dunkler Umriss schoss aus dem Dunkel zwischen den Gestirnen heran, flügelschlagend und gewaltig, mit einem Schnabel so groß wie ein Schiffsrumpf. Immer größer wurde der Riesenvogel, sein Gefieder sträubte sich flatternd im Nachtwind, seine Krallen öffneten und schlossen sich, auf und zu, immer wieder. Die Spitze des Lurlinberges reckte sich ihm entgegen, verjüngte sich wie ein steinerner Dorn. Der Vogel raste heran, kam näher, immer näher, und als der Mond in seinen Augen glitzerte, riss er die riesigen Schwingen empor und rammte mit der gefiederten Brust auf den Stachel des Berges, spießte sich auf und blieb mit schlaffen Gliedern auf der Spitze stecken.

Ailis erwachte am frühen Morgen, aber es war nicht der Traum, der sie aufgeweckt hatte. Wieder war es der Gesang. Und sie wusste, heute galt er ihr. Ihr ganz allein.

Sie schwang ihre nackten Beine über die Bettkante. Ihre bloßen Fußsohlen berührten den Boden, doch ihr war nicht kalt. Eine geisterhafte Wärme erfüllte ihren ganzen Körper, sogar ihre Gedanken. Der Traum war nicht länger schrecklich. Er war eine Einladung, zum Berg zu kommen, genau wie der große Vogel.

Der Gesang des Mädchens war angenehm. Er nahm Ailis alle Entscheidungen ab, er sagte ihr, was zu tun sei. Das machte alles so einfach. Sie fühlte sich sehr leicht, sehr unbeschwert, ganz wie ein Kind, das von seinen Eltern an der Hand geführt wird.

Ihre Eltern hatten sie nie an der Hand geführt. Das Mädchen aber war ihre Freundin, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Ailis war sehr glücklich, jemanden zu haben, der sich so um sie kümmerte. Es gab ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, der über alle Maßen wichtig war.

Sie zog sich an und schlich die Treppen des Weiberhauses hinunter. Hinter manchen Türen regten sich schon einige der Bewohnerinnen. Die Zofen mussten aufstehen, um die Kleidung der Gräfin bereitzulegen.

In Windeseile überquerte Ailis den Hof und lief zum Eingang der Schmiede. Es war noch dunkel, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dämmerung über die Zinnen kroch. Ohne einen Laut öffnete sie die Tür der Werkstatt. Die Glut in der Esse verbreitete Wärme, wohlig und einladend. Hinter dem Vorhang an der Rückseite erklang Erlands heiseres Atmen. Er schlief.

Diesmal war alles ganz einfach. Flugs kletterte sie die Balken hinauf. Sie fand die kleine Kiste noch genau dort, wo sie schon beim letzten Mal gestanden hatte. Ailis öffnete sie ohne Ehrfurcht, nahm den Schlüssel heraus und klappte den Deckel wieder zu. Dann hangelte sie sich vorsichtig nach unten, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. An der Tür horchte sie noch einmal auf Erlands Atemzüge. Sie klangen unverändert. Ailis überlegte nur einen Herzschlag lang, dann lief sie wieder zurück, fand zielsicher die Kiste mit den Schmuckstücken und nahm willkürlich eine kunstvolle Brosche heraus. Schließlich verließ sie die Schmiede, ohne entdeckt zu werden.

Draußen erwartete sie eine Überraschung.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.