Lissabon: Literarische Streifzüge durch die Stadt (German Edition) by Werner Herzog

Autor:Werner Herzog [Herzog, Werner]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Books on Demand
veröffentlicht: 2013-11-12T23:00:00+00:00

Der Carmo-Platz, Revolutionsort und friedliche Stadtoase in einem.

9. NEUE WEGE

Die Orte der Nelkenrevolution und das Bairro Alto

In wenigen Schritten kann man dem Lärm und der Geschäftigkeit des Rossio-Platzes entrinnen. Die Calçada do Carmo eignet sich dazu bestens. Man schöpfe aber tief Luft, die Straße steigt steil an. Doch die Anstrengung lohnt sich. An Antiquariaten und anderen kuriosen Geschäften vorbei führt sie zu einem Platz, der still und friedlich wie eine Oase im Stadtzentrum liegt. Es ist der Carmo-Platz, ein Ort der Erinnerungen, der Besinnung und der Freude.

Lieblicher und harmloser könnte der Platz nicht aussehen. Jacarandá-Bäume blühen, in seiner Mitte steht wie ein Denkmal ein prachtvoller steinerner Brunnen aus der Barock-Zeit, der früher vom gewaltigen Aquädukt her gespeist wurde, welches das Alcantara-Tal überspannt. An einer Ecke überlebt ein verschnörkelter Kiosk, vor einem Tuchgeschäft blühen Geranien, an Tischen spielen alte Männer Karten, auf den Steinbänken haben sich einige Touristen niedergelassen, die Mosaikmuster der Pflastersteine dienen Tauben als Landeplatz.

Erinnerung, Besinnung, Freude: Das Gerippe der Carmo-Klosterkirche neben dem Platz erinnert an das grosse Erdbeben, die Kaserne der Guarda Nacional Republicana ist der Ort, an dem an einem schönen Aprilnachmittag im Jahre 1974 die Diktatur stürzte. Damals war der so friedfertige Ort ein Tumult, ein freudiges Chaos. José Cardoso Pires beschrieb den Tag so:

<Am Largo do Carmo, im Hauptquartier der Guarda Republicana, waren die flüchtigen Diktatoren von einem einem Aufruhr von Nelken und Gewehren umzingelt. Eine unüberschaubare Menschenmenge stimmte das Lied ‘Grandola, Vila Morena’an, ein riesiger Chor, der vor einer Kaserne von Verdammten feierlich das Land der Brüderlichkeit ausrief Die Panzerwagen standen mit schussbereiten Waffen mitten unter uns, und Alexandra und ihr Gefährte, der Soldatendoktor, konnten die Augen nicht losreissen von den Geschützen der Aufständischen, die gegen die ohnmächtigen und blinden Mauern Front machten – blind vor Furcht waren sie, diese Mauern mit den verrammelten Fenstern und zugezogenen Vorhängen. Und dahinter das einsame Ende des Regierungschefs, der sich, die Brille in der Hand, beim düsteren Licht die kalten Augen rieb, als er die Macht auf der Straße spürte. Er hatte sich, wie wir später hörten, alleine eingeschlossen und harrte gelassen des Schicksals, das er in aller Form und nach Gottes Ratschluss würde erfüllen müssen; doch weiter hinten im machtlosen Militärpalazzo und daher, so glaubten sie wenigstens, sicherer vor dem Volk und den Soldaten dieses Aprils, stolperten die Minister übereinander und hielten sich die Ohren zu, um ja nicht zu hören, was sie draußen erwartete>.

Der Platz war gerammelt voll, in den Bäumen hingen Menschentrauben, ein blindes Pärchen – so Cardoso Pires – hatte sich in eine Telefonkabine geflüchtet und verfolgte dort die Ereignisse am Transistor-Apparat, die jungen Soldaten hatten Mühe, ihre Panzerwagen zu platzieren und das erregt vordrängende Volk aus der Gefahrenzone zu halten. Nach zwei Stunden der Belagerung war es soweit: Diktator Marcello Caetano, der Nachfolger Salazars, wurde in einem Militärvehikel aus der Garnison zum Flughafen gefahren und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Eine Inschrift mitten auf dem Platz, die gegen den Kaserneneingang gerichtet ist, erinnert an jene kurzen Stunden der Euphorie. Sie dankt Salgueiro Maia, dem Befehlshaber der aufständischen Panzerwagenkolonne, für seinen Mut und seine Übersicht.

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