Liebeswahn (German Edition) by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257600278
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2015-01-21T05:00:00+00:00

Fünfzehn

Auf dem Heimweg bog ich da, wo die Chilterns ansteigen, von der Autobahn ab Richtung Süden und fuhr zu der Wiese. Ich parkte genau dort, wo Logan den Wagen auf dem Randstreifen abgestellt hatte. Neben der Beifahrertür stehend, hätte sie klare Sicht auf das ganze Drama gehabt, vom Ballon und seinem quer über die Wiese geschleiften Korb bis hin zu dem Kampf mit den Seilen und dem Sturz. Wo er gelandet war, hätte sie von hier nicht sehen können. Ich stellte sie mir vor, wie sie, hübsch, Anfang Zwanzig, außer sich vor Verzweiflung die Straße hinauf zum nächstgelegenen Dorf gerannt war. Vielleicht war sie aber auch in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, den Hügel hinab nach Watlington. Ich stand an ihrer Stelle da und träumte von den heimlichen Anrufen oder Briefchen, die ihrem Picknick vorausgegangen sein mochten. Vielleicht liebten sie sich wirklich. Litt er, der ehrbare Familienvater, Qualen der Schuld und Unentschiedenheit? Und welch gewaltsame Verwandlung für sie, von dem Idyll mit dem angebeteten Mann, auf das sie sich gefreut hatte, zu dem Alptraum, dem Augenblick, um den ihr weiteres Leben sich drehen würde. Bei allem Schrecken vergaß sie doch nicht, ihre Sachen im Auto zusammenzuklauben – Mantel und Tasche vielleicht, aber nicht das Picknick und ihr Halstuch –, und dann dürfte sie zu rennen angefangen haben. Es war mir völlig einsichtig, daß sie sich nicht meldete. Sie blieb zu Hause, las die Zeitungen und lag wimmernd auf ihrem Bett.

Ohne besonderen Vorsatz begann ich querfeldein zu gehen. Alles sah anders aus. In weniger als zwei Wochen hatten die Hecken und die umliegenden Bäume zu grünen begonnen, und das Gras unter meinen Füßen ließ etwas von der künftigen Üppigkeit ahnen. Als sei ich bei einem Lokaltermin der Polizei zugegen, wählte ich den Pfad, den Clarissa und ich gegangen waren, und folgte ihm bis zu der Stelle, wo wir Schutz vor dem Wind gesucht hatten. Sie kam mir beinahe wie eine ferne Erinnerung aus der Kindheit vor. Wir waren so glücklich über unser Wiedersehen gewesen, so ungezwungen, und inzwischen konnte ich mir eine Rückkehr zu dieser Unschuld kaum mehr vorstellen.

Von hier lief ich langsam zur Mitte der Wiese, der Linie meines Sprints folgend, zu dem Punkt, wo unsere Lebensfäden zusammengelaufen waren, und dann die Strecke entlang, auf der uns der Wind getrieben hatte, bis zum Rand des Steilabbruchs. Dort, quer über die Wiese, verlief der Fußpfad, auf dem Parry in mein Leben getreten war. Dort, wo jetzt mein Wagen stand, hatte Logan angehalten. Hier hatten wir gestanden und ihn vom Himmel fallen sehen; und hier hatte Parry meinen Blick aufgefangen und war von einer Liebe heimgesucht worden, deren Krankhaftigkeit näher zu erforschen ich kaum erwarten konnte.

Dies waren die Stationen meines Kreuzwegs. Ich lief den Hang hinunter, auf das Feld, zur nächsten Station. Die Schafe waren verschwunden, und die Landstraße hinter der Hecke war näher, als ich es in Erinnerung hatte. Ich suchte nach einer Vertiefung im Boden, sah aber nur den Anfang eines Brennesselteppichs, der sich fast bis zu dem Gatter erstreckte, über das die Polizisten geklettert waren.

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