Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage by Erich Fromm
Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 978-3-95912-128-6
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2015-12-01T23:00:00+00:00
Geschlecht und Sexualität
Sexualität und Charakter.
Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report
(Sex and Character.
The Kinsey-Report Viewed from the Standpoint of Psychoanalysis)
(1948b)[60]
Freuds Sexualtheorie[61], die er zu Anfang unseres Jahrhunderts zum ersten Mal veröffentlichte, bedeutete eine Herausforderung für eine Generation, die noch immer unerschütterlich dem Glauben an die sexuellen Tabus des Viktorianischen Zeitalters verschworen war. Freud hatte gezeigt, dass die Verteufelung der Sexualität zu Schuldgefühlen führt und dass dadurch Neurosen entstehen. Außerdem hatte er gezeigt, dass Abweichungen vom sogenannten normalen Sexualverhalten keine seltenen Ungeheuerlichkeiten sind, sondern zur normalen sexuellen Entwicklung von der frühen Kindheit zur Adoleszenz gehören und dass sexuelle Anomalitäten beim Erwachsenen Überreste früherer sexueller Verhaltensweisen sind und deshalb als neurotische Symptome zu verstehen und nicht moralisch zu verurteilen sind.
Angesichts der Tatsache, dass Freud und seine Schule die Sexualität in den Mittelpunkt ihrer psychologischen Theorie stellten, ist es umso erstaunlicher, dass vor dem Kinsey-Report von 1948 von Psychoanalytikern kein ausführlicher Überblick über das Sexualverhalten durchgeführt worden ist. Man sollte darum meinen, der Kinsey-Bericht wäre allen Psychoanalytikern hochwillkommen gewesen als ein Bericht über Tatsachen, die den allgemeinen Trend der psychoanalytischen Einstellung bestätigen, auch wenn sich der Report nur mit dem manifesten Verhalten und nicht mit dem Problem unbewusster Motivationen und des Charakters befasst. Aber entgegen diesen Erwartungen hat eine ganze Reihe von Psychoanalytikern (eine Minderheit, wie ich hoffe) ihn mit einer recht unfreundlichen Kritik aufgenommen. Eine Kritik geht beispielsweise so weit zu behaupten, Kinsey habe unmöglich in so kurzer Zeit eine solche Fülle von Daten ans Licht bringen können, während es den Psychoanalytikern sehr schwerfalle, selbst in zahlreichen Interviews auch nur verhältnismäßig wenige Daten über einen einzelnen Patienten zusammenzutragen. Ein solches Argument kann man natürlich immer vorbringen, wenn ein Forscher mehr Erfolg hat als seine Vorgänger, aber eine ernstzunehmende Kritik ist sie nicht.
Will man die Bedeutung des Kinsey-Reports vom Standpunkt des Psychoanalytikers überprüfen, so muss man zunächst die theoretischen Unterschiede zwischen den einzelnen psychoanalytischen Schulen bezüglich der Rolle der Sexualität im menschlichen [VIII-378] Verhalten in Betracht ziehen. Freud und seine Schüler waren der Ansicht, die Energiequelle menschlichen Verhaltens sei weitgehend sexueller Natur. Man nahm an, dass die normale Entwicklung der Libido durch Umwelteinflüsse besonders in der frühen Kindheit gehemmt oder entstellt werden kann und dass Besonderheiten im Verhalten und Charakter von Erwachsenen in den Besonderheiten seiner sexuellen Begierden und Wünsche wurzeln. Die Merkmale des Sexuallebens eines Menschen waren dann für seine Gesamtpersönlichkeit von exemplarischer Bedeutung.
Dies gilt beispielsweise für sadistische Strebungen. Freud war der Ansicht, dass sadistische Impulse beim Kind während einer bestimmten Phase seiner Entwicklung einen Bestandteil seiner sexuellen Strebungen ausmachen. Wenn diese frühe Phase der sexuellen Entwicklung des Kindes in seinem späteren sexuellen Leben die Vorherrschaft behält, so wird der Betreffende als Erwachsener Sadismus entweder als sexuelle Perversion oder als Charakterstruktur entwickeln, in der der Wunsch, seine Mitmenschen zu unterdrücken, zu beherrschen und herabzusetzen, dominant ist.
Ein weiteres Beispiel sind die „oralen Begierden“. Freud nahm an, dass der Sexualtrieb sich – bevor er sich auf die Genitalien konzentriert – auf diffuse Weise in anderen Körperzonen äußert. Seiner Auffassung nach ist der Säugling dadurch gekennzeichnet, dass sich
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