Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug by Dörrie Doris
Autor:Dörrie, Doris [Dörrie, Doris]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603842
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-11T05:00:00+00:00
[133] Paradies
[135] Wir hatten uns angewöhnt, an den Wochenenden kleine Ausflüge zu unternehmen. Stumm fuhren wir über Land, strichen durch kahle, düstere Wälder, stapften über bleiche Wiesen, da hatten wir ein Ziel, die nächste Anhöhe, den See. Wir waren auf der Flucht. Das sprachen wir nie aus, wir wußten es beide.
In der Studienzeit lernten wir uns kennen, sie fiel jedem auf mit ihren langen, leuchtend blonden, dicken Haaren, von hinten war sie schöner als von vorn. Angelika.
Der Stolz ihrer Mutter, diese Haare, die Jungen rissen ihr auf dem Schulweg die Mütze vom Kopf, ich sehe immer wieder Frauen in der Werbung, sie sausen mit Motorradhelmen und Rennfahrermützen ins Bild, und dann nehmen sie sie ab, und es quillt regelmäßig eine Flut von gelben Haaren heraus, wie eine Erlösung; die Jungen zogen Angelika an ihren Haaren, und so tauchte Lotte Kovacz auf, in Angelikas Erzählungen ein derbes Bauernkind in Häkelpullovern und mit einem praktischen Rattenschopf, mit der Angelika nie zuvor ein Wort gewechselt hatte, obwohl sie in dieselbe Klasse gingen, Lotte Kovacz stand also plötzlich da, vor einer ganzen Bande von Jungen, zückte ein Taschenmesser und schrie: »Ihr Feiglinge! Kneifen, Kratzen, Haareziehen ist verboten!«, schob den Pullover am Arm nach oben und schnitt sich mit dem Messer tief ins Fleisch. Die Jungen verzogen sich beeindruckt, und Angelika verband Lottes Wunde mit [136] Ahornblättern, weil Lotte es so aus Indianergeschichten kannte. Von da an war sie Angelikas Leibwächterin.
Erst sehr viel später, als ich erkannte, daß meine Rolle in Angelikas Leben allein die ihres Beschützers sein sollte, erinnerte ich mich an diese Geschichte, und ich fragte mich, was diese Lotte dazu gebracht hatte, so um Angelika zu werben und um sie zu kämpfen; wie brachte Angelika es fertig, daß man sich für sie in die Bresche warf, ungeachtet der eigenen Verletzungen? Ich mochte nicht mehr.
Nie hatte sie den Wunsch geäußert, Hissdorf wiederzusehen. Die Familie hatte den Ort verlassen, als sie zwölf war, der Vater, Lehrer an der dortigen Schule, war in eine Kleinstadt versetzt worden, und daß sie auf dem Land aufgewachsen war, hatte kaum Spuren hinterlassen, sie konnte gut mit Pflanzen umgehen und mochte keine Haustiere.
Heute nun verlangte sie plötzlich, nach Hissdorf zu fahren, es sei gar nicht weit, und plötzlich war sie ganz aufgeregt, so wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, und sie tat so, als sei es schon lange ihr sehnlichster Wunsch gewesen, das Dorf einmal wiederzusehen. Du wirst vielleicht enttäuscht sein, es hat sich wahrscheinlich völlig verändert, da fuhr sie mir über den Mund, ihr Hissdorf könne man gar nicht verändern. Auch nach elf Jahren Ehe verletzte mich ihre unvermittelt grobe Art.
[137] Ein häßliches Kaff, auf einem Hügel gelegen, durchschnitten von der Bundesstraße, renovierte Bauernhöfe mit Haustüren aus Glasbausteinen, eine geschlossene Kneipe »Zum Hirschen«, eine klobige Kirche ohne den geringsten Charme.
Natürlich war sie enttäuscht, das sah ich ihr an. Stumm und bewegungslos saß sie da, und ich fuhr ein paar Mal langsam die Straße auf und ab, bis sie auf ein modernes Einfamilienhaus zeigte: »Da, da stand unser Haus, und da hat Lotte gewohnt.
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