Liebe und Tod (German Edition) by Tóibín Colm

Liebe und Tod (German Edition) by Tóibín Colm

Autor:Tóibín, Colm [Tóibín, Colm]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2014-11-25T23:00:00+00:00


Die Reise nach Galway

Sie erinnerte sich an die ungewöhnliche Stille an jenem Morgen – ein Schweigen in den Bäumen und auf dem Hof und eine Leblosigkeit im Haus selbst, keinerlei Geräusche aus der Küche und niemand, der die Treppe hinauf- oder hinunterstieg. Aber sie fragte sich, ob die Stille real gewesen war oder vielmehr nur etwas, was sie sich im Nachhinein vorgestellt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob der Erhalt der Nachricht nicht tatsächlich ihre Erinnerung an die Stunden davor verändert hatte. Bisweilen dachte sie, dass es kaum von Belang war, aber dann wieder, besonders wenn sie bei Frühlicht und Frühgezwitscher aufwachte, gehörten die kleinsten Umstände, unter denen sie von Roberts Tod erfahren hatte, und das genaue Wissen darum, wie die voraufgegangene Zeitspanne verlaufen war, ebenso sehr zu ihrem Leben wie ihr Atem oder ihr Herzschlag. Es fiel ihr wie eine Geschichte ein, die immer wieder erzählt worden war, und weniger wie ein einzelnes brutales Faktum – so, als ob seine zeitliche Einordnung und die Erinnerung daran, wie sich die Nachricht ausgebreitet hatte, das Geschehene nach und nach milderte, abschwächte, sanft in den Hintergrund drängte. Die Details ihrer Reise nach Galway etwa, um es Margaret zu sagen, und worüber sie in den zwei Zügen nachgedacht hatte. Oder wo sie gesessen hatte, als die Mitteilung kam, und was ihr in den Sekunden, bevor sie das Telegramm gesehen hatte, durch den Kopf gegangen war.

An manchen Morgen lag sie im Bett und durchlebte das alles Moment für Moment in der Gewissheit, dass es immer so weitergehen würde, bis sie starb, und dass sie nichts daran ändern konnte. Für sie verlief zwischen der Zeit, bevor sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr, und der Zeit danach eine Linie. In der Zeit davor hatte sie sich gefragt, wo sie sein würde, falls eine schlimme Nachricht kam, in welchem Zimmer sie sein, zu welcher Zeit des Tages die Nachricht wohl kommen würde. Sie hatte sich sogar sich selbst vorgestellt, wie sie die Nachricht erhielt, die Erschütterung in ihrem Gesicht, ihre atemlose Stimme. Und jeden Abend, wenn sie sich zum Schlafen nach oben begab, hatte sie sich den gerade verstrichenen Tag als einen weiteren notiert, der ohne Nachrichten gekommen und gegangen war, einen Tag zum Auskosten also, einer, für den man dankbar sein sollte. Diese Gedanken schienen von den späteren Gedanken so verschieden zu sein, wie das Land vom Ozean verschieden war, die Luft vom Wasser, der Tod in einem Theaterstück von einem realen toten Körper, der draußen auf der realen Straße in einer Blutlache lag.

Wenn Robert geschrieben hatte, waren seine Briefe mit Sorgfalt und aufmerksam gelesen worden. Sie wusste, dass er vieles nicht sagen durfte, und das bedeutete, dass eine beiläufige Bemerkung wichtig sein, vielleicht sogar eine verborgene Bedeutung besitzen konnte. Doch inwieweit, war häufig unklar, da seine Briefe in Eile geschrieben zu sein schienen. Vielleicht hatte er mit seinen Briefen nicht mehr gemeint, als sie aussagten. Dennoch musste es stimmen, dachte sie, dass unbeabsichtigte Worte etwas verrieten. Wenn er aber schrieb: »Manchmal wache ich mit



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