Liebe by von Schirach Ferdinand

Liebe by von Schirach Ferdinand

Autor:von Schirach, Ferdinand [von Schirach, Ferdinand]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492957106
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2014-12-29T05:00:00+00:00


Es gibt verschiedene Arten des Kannibalismus. Menschen essen Menschen aus Hunger, aus rituellen Gründen oder eben wegen schwerer Persönlichkeitsstörungen, die oft eine sexuelle Prägung haben. Patrik glaubte, dass Hollywood Hannibal Lecter erfand, aber es gibt ihn seit Menschengedenken. In der Steiermark aß Paul Reisinger im 18. Jahrhundert sechs »zuckende Herzen von Jungfrauen« – er glaubte, wenn er neun davon verspeise, könnte er unsichtbar werden. Peter Kürten trank das Blut seiner Opfer, Joachim Kroll aß in den Siebzigerjahren mindestens acht Menschen, die er getötet hatte, und Bernhard Oehme verspeiste 1948 seine eigene Schwester.

Es finden sich in der Rechtsgeschichte zahlreiche Beispiele, die unvorstellbar sind. Als Karl Denke 1924 festgenommen wurde, fand man in seiner Küche alle möglichen Reste von Menschen: in Essig eingelegte Fleischbrocken, einen Kübel voll Knochen, Töpfe mit ausgelassenem Fett und einen Sack mit Hunderten Menschenzähnen. Er trug Hosenträger, die aus Streifen von Menschenhaut geschnitten waren, man konnte darauf Brustwarzen identifizieren. Wie viele Opfer es gab, ist bis heute unbekannt.

»Patrik, haben Sie schon einmal etwas von dem Japaner Issei Sagawa gehört?«

»Nein, wer ist das?«

»Sagawa ist heute Restaurantkritiker in Tokio.«

»Ja, und?«

»1981 hat er seine Freundin in Paris aufgegessen. Er hat gesagt, er habe das Mädchen zu sehr geliebt.«

»Hat er sie ganz gegessen?«

»Zumindest einige Stücke.«

»Und«, Patriks Stimme vibrierte, »hat er gesagt, wie es war?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaube, er hat gesagt, sie habe nach Thunfisch geschmeckt.«

»Ah …«

»Die Ärzte diagnostizierten damals eine schwere psychotische Störung.«

»Habe ich das auch?«

»Ich weiß es nicht genau, aber ich will, dass Sie zu einem Arzt gehen.« Ich schaltete das Licht an. »Warten Sie bitte, ich hole Ihnen die Nummer des psychiatrischen Notdienstes. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie jetzt dorthin.«

»Nein«, sagte er. »Ich möchte erst nachdenken.«

»Ich kann Sie nicht zwingen. Aber bitte kommen Sie morgen früh in die Kanzlei. Ich gehe mit Ihnen zu einem vernünftigen Psychiater. Einverstanden?«

Er zögerte. Dann sagte er, dass er komme, und wir standen auf. »Darf ich Sie noch etwas fragen?«, sagte Patrik und wurde ganz leise. »Was passiert, wenn ich nicht zu einem Psychiater gehe?«

»Ich fürchte, es wird schlimmer«, sagte ich. Ich schloss die Tür zur Kanzlei wieder auf, um die Telefonnummer herauszusuchen und den Aschenbecher zurückzubringen. Als ich zurück ins Treppenhaus trat, war Patrik verschwunden.



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