Liebe am Don by Heinz G. Konsalik

Liebe am Don by Heinz G. Konsalik

Autor:Heinz G. Konsalik [Konsalik, Heinz G.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-09-29T04:00:00+00:00


NEUNZEHNTES KAPITEL

Wolgograd –

Das ist mehr als nur ein Name für eine Stadt, das ist nicht nur ein Haufen Häuser an der Wolga, ein Gewirr von Straßen, ein Klingeln von Trambahnen, Hupen der Busse, Stampfen der Maschinen in den Fabriken, Lachen und Reden von Hunderttausenden Menschen, Musik und Stille in den Gärten, Rauschen der Wolga und Zwitschern der Vögel, Knirschen der Baukräne und Rasseln der Ketten … das alles ist nicht Wolgograd … die blanken Schaufenster der Geschäfte, die wippenden Röcke der Mädchen, der erdfeste Gang der Männer, die küssenden Liebespaare in den Parks, die Tanzfeste auf den schwimmenden künstlichen Inseln in der Wolga, das Prusten der Eisenbahnen, das leuchtende Weiß der langen Ausflugsschiffe auf dem Strom, der Staub, den der Wind jeden Tag durch die Straßen treibt, der Wind, der über die Wolga weht aus der Unendlichkeit Asiens, die Ruinen, die noch herumstehen wie bettelnde Krüppel inmitten einer neuen, heilen, hellen, zum Himmel strebenden Welt … das alles ist nicht Wolgograd … nicht die ihr Schwert in den Himmel reckende und nach Westen schreiende riesige Siegesgöttin auf dem Mamajew-Hügel, nicht das Pawlow-Haus, Mahnmal des Widerstandes, zerfetzt, rauchgeschwärzt, ein Stück Tod, umgeben von den blanken Augen der Neubauten, nicht die eroberten Fahnen und Feldzeichen der Deutschen im Kriegsmuseum, nicht die durch die Stadt sich schwingende Eisenbahnlinie in der Form eines Tennisschlägers, nicht der Tatarengraben, nicht die Straße zum Flugplatz Pitomnik, an der einmal 20.000 steifgefrorene Leichen lagen, nicht Gumrak, wo man aus Toten Treppenstufen in die Waggons baute, nicht das Wolga-Ufer, in das sich einmal eine ganze Armee gewühlt hatte … das alles ist nicht Wolgograd … nicht das Planetarium, das Gorki-Theater, die Straße des Friedens, die tempelgeschmückte Triumphalle zur Wolga hinunter, diese Riesenstadt von siebzig Kilometern Länge, die in der Nacht leuchtet wie ein Lichterband und die unendlich scheint, wenn man sie vom Mamajew Kurgan, am großen Schlachtdenkmal, aus betrachtet, dieses Steinmeer, das einmal Stalingrad hieß, in dem es keine Häuser, Straßen, Plätze und Anlagen mehr gab, sondern nur noch die Mondlandschaft von Kratern, Laufgräben, Ruinen, Trümmerbergen, zerfetztem Eisen und zerrissenen Menschenleibern, dieses Stalingrad, in dem 41.000 Häuser zusammengestampft wurden und das man die ›Stadt ohne Adresse‹ nannte, denn es war nichts mehr da als ein Gebirge zerborstener Mauern … diese Stadt, die neu erstand, größer, weiter, schöner, reicher, leuchtender … diese Stadt, in der jetzt wieder 800.000 Menschen leben, alle Völker dieses weiten Landes, Kirgisen, Ewenken und Tataren, Weißrussen, Moskowiter und Grusinier, Kosaken, Kalmücken und Armenier, diese Stadt, das Tor zum russischen Süden, ist mehr als ein Name, mehr als eine blutige Erinnerung, mehr als ein deutsches Schuldgefühl, mehr als der Totenacker einer ganzen Armee, mehr als der Begriff eines militärischen Wahnsinns, mehr als ein Wendepunkt der Geschichte … diese Stadt ist ein Schicksal.

Njuscha und Eberhard Bodmar standen in der riesigen, mit Marmor ausgekleideten Halle des neuen Bahnhofs und tranken aus Pappbechern kalte, süße, klebrige Limonade. Um sie herum stapelte sich das Gepäck, das Väterchen Kolzow und seine Freunde noch mit grober Gewalt in das Abteil hatten drücken können.



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