Lichtjahre by James Salter
Autor:James Salter [Salter, James]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
DREI
1
Mit sechzehn veränderte sich Franca. Sie begann ihr Versprechen einzulösen. Als wäre es über Nacht geschehen, in der Art wie Blätter erscheinen, war sie plötzlich selbstbewuÃt. Eines Morgens wachte sie mit diesem SelbstbewuÃtsein auf, es war ihr gegeben worden. Sie hatte nun Brüste, ihre FüÃe waren ein biÃchen groÃ. Ihr Gesicht war ruhig und unergründlich.
Sie waren sich nahe, Mutter und Tochter. Nedra behandelte sie wie eine Frau. Sie redeten viel miteinander. Die Welt verändere sich, erklärte ihr Nedra. »Ich meine damit nicht die Mode«, sagte sie. »Das sind nicht wirklich Veränderungen. Ich meine, daà man anders leben kann als früher.«
»Zum Beispiel?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst es merken. Du wirst es viel besser verstehen als ich. Ich weià in Wirklichkeit nicht viel, aber ich spüre, wenn etwas in der Luft liegt.« Es gibt Wärme in Familien, aber selten Freundschaft. Sie sprach gerne mit Franca und redete auch gerne über sie. Sie fühlte, dies war die Frau, zu der sie selbst geworden war, so wie das Gegenwärtige das Vergangene verkörpern kann. Sie wollte durch sie das Leben neu entdecken, es ein zweites Mal genieÃen.
Eines Abends während der Ferien gab Dana ein Fest. Dana, deren Gesicht schon einen merkwürdig toten, fast bitteren Ausdruck hatte - aber was konnte man erwarten, sagte Nedra, bei einem Trinker als Vater und einer Mutter ohne Verstand. Sie las an diesem Abend ein Buch über Kandinsky, einen schweren, schönen Band mit glattem Papier. Sie hatte seine Ausstellung im Guggenheim gesehen, und sie war von seinem Werk wie geblendet. In der Stille des Abends, in der Stunde, wenn alles erledigt ist, schlug sie den Band schlieÃlich auf. Er hatte erst spät zu malen begonnen, las sie. Er war zweiunddreiÃig, als er anfing.
Sie rief Eve an. »Ich finde das Buch wundervoll«, sagte sie. »Ich fand auch, daà es gut aussah.«
»Ich hab gerade angefangen, darin zu lesen«, sagte Nedra. »Am Anfang des Ersten Weltkrieges lebte er in München, dann ging er nach RuÃland zurück. Er verlieà die Frau - sie war auch Malerin -, mit der er zehn Jahre zusammengelebt hatte. Er hat sie nur noch einmal wiedergesehen - stell dir das mal vor -, auf einer Ausstellung im Jahr 1927.« Das Buch lag auf ihrem SchoÃ; sie hatte nicht weitergelesen. Die Kraft, sein Leben zu verändern, kann sich aus einer Passage ergeben, einer Bemerkung. Die Zeilen, die uns treffen, sind schlank wie die Egel, die im FluÃwasser leben und sich am Körper von Schwimmenden festsaugen. Sie war erregt, voller Kraft. Die Sätze waren, wie es schien, genau zur richtigen Zeit gekommen wie so viele andere Dinge. Wie können wir uns unser zukünftiges Leben vorstellen ohne die Inspiration durch das Leben anderer Menschen? Sie legte das Buch aufgeschlagen neben ein paar andere hin. Dort sollte es auf sie warten. Sie wollte nachdenken, dann zu ihm zurückkehren, es noch einmal lesen, weiterlesen, im Reichtum seiner Abbildungen baden. Franca kam um elf nach Hause. In dem Moment, als die Tür zuging, spürte Nedra, daà etwas nicht stimmte. »Was ist?« fragte sie.
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