Lesereise - Israel by Gil Yaron
Autor:Gil Yaron [Yaron, Gil]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783854529897
Herausgeber: Picus-Verlag
veröffentlicht: 2011-02-01T23:00:00+00:00
Alltag in Jerusalem
Jerusalem ist für viele Menschen in der Welt mehr ein Symbol als eine Postanschrift
Abu Tor hat eine traumhafte Lage. Von hier kann man einen Blick auf die goldene Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg genießen, oder auf die Scherover Promenade, eine der großen grünen Lungen Ostjerusalems. Angesichts dieses Ausblicks wundert man sich nicht, dass sich laut einer Legende irgendwo in diesem kleinen exklusiven Stadtteil südwestlich der Jerusalemer Altstadt einst der Hohepriester Hanania begraben ließ. Eine andere Legende sagt, tausend Jahre später habe es ihm Ahmad al-Qudsi, ein Weggefährte Saladins, nachgemacht, und den Hügel zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt. Nur wenige Autominuten vom Zentrum entfernt, ist die Atmosphäre zwischen den engen Gassen mit den arabischen Villen in vielen Teilen rustikal. Kaum etwas erinnert heute noch daran, dass sich vor 1967 ein tödlicher Grenzstreifen mitten durch das Stadtviertel zog. Stacheldraht, Scharfschützen und Betonwände trennten den hoch gelegenen israelischen Teil im Westen und den tiefer gelegenen, von Jordanien besetzten Ostteil. Die Grenze zog sich mitten durch Abu Tor.
Im Sechstagekrieg 1967 wurde der Stadtteil, wie der Rest Jerusalems, nach zwanzig Jahren Trennung wieder unter israelischer Herrschaft vereint. Wo einst Niemandsland war, steigt heute eine Fußgängertreppe in eine baumbestandene Straße, in der Kinder sorglos spielen. Die Mauern und der Stacheldraht sind aus den Straßen verschwunden, in den Köpfen der Stadtbewohner hat sich die Trennung jedoch erhalten. Bis heute bleibt Abu Tor, wie die meisten Stadtviertel Jerusalems, entlang einer unsichtbaren Linie säuberlich in einen arabischen und einen jüdischen Teil geteilt.
Die Unterschiede sind greifbar. Wer in den jüdischen Teil kommt, wird von breiten, sauberen, baumbestandenen Straßen empfangen. Nur wenige Hundert Meter weiter, östlich jener Treppe, die einst die Grenze markierte, herrscht eine andere Welt. Wind wirbelt Müll durch die Straße. Hier hat kein Haus seine eigene Mülltonne. Stattdessen stehen am Straßenrand, wo Parkplätze bitterlich fehlen, grüne Müllcontainer, in die die Bewohner ihren Abfall von Weitem werfen. Oftmals verfehlen sie dabei die stinkende, offen stehende Klappe des Containers, sehr zur Freude unzähliger Straßenkatzen, die die Tüten zerreißen und sich an dem herumfliegenden Unrat laben. Oben leuchtet die Neonschrift eines modernen Supermarkts, der rund um die Uhr geöffnet hat, unten wirbt ein verblichenes Plakat auf Arabisch für den lokalen Tante-Emma-Laden. Oben parken nagelneue Geländewagen, manche mit Diplomatenkennzeichen, vor Villen mit grünen Vorgärten, unten rauschen aufgemotzte BMWs mit heruntergekurbelten Fenstern, durch die laute arabische Musik tönt, dicht an spielenden Kindern vorbei. Nur selten traut sich ein Jude nach unten oder ein Araber nach oben.
Das jüdische und das arabische Abu Tor könnten fast auf unterschiedlichen Planeten liegen. Die Kinder gehen in verschiedene Schulen, lernen nach einem jeweils eigenen Lehrplan und sprechen verschiedene Sprachen. Ihre Eltern lesen verschiedene Zeitungen. Die einen sehen israelische, die anderen arabische Fernsehkanäle, in denen sich die Realität des Nahen Ostens völlig unterschiedlich darstellt. Während die Juden Polizisten als Vertreter der Staatsgewalt betrachten, die ihre Rechte und Sicherheit beschützen, sind dieselben Beamten aus arabischer Sicht Teil eines Mechanismus, der sie schikaniert und unterdrückt.
Trotzdem gibt es Berührungspunkte zwischen den parallelen Universen Abu Tors. Mitten zwischen den jüdischen Villen liegt ein Spielplatz, auf dem sich ungezwungen Kinder von »unten« und von »oben« tummeln.
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