Leonard und Paul by Hession Rónán

Autor:Hession, Rónán [Hession, Rónán]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783755810445
Herausgeber: Dumont Buchverlag
veröffentlicht: 2024-03-29T00:00:00+00:00

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HAPPY MEAL

Als Leonard das Gespräch beendet hatte, kam er sich irgendwie schäbig vor, er hatte Gewissensbisse und das Gefühl, seinen besten und einzigen wahren Freund im Stich gelassen zu haben. Einen Mann, der ihm in allen Lebenslagen zur Seite gestanden hatte, der in seinem (zugegebenermaßen nicht besonders ausgefüllten) Alltag immer ein Eckchen für Leonard reserviert hatte. Ihre Freundschaft war mehr als die bequeme Verbindung zweier introvertierter, alleinstehender Männer, die ansonsten wenig Auswahl hatten – sie war ein Pakt. Ein Pakt gegen die Unrast und Achtlosigkeit, die den Rest der Welt erfasst hatten. Ein Pakt der Bescheidenheit gegen Konkurrenzgerangel und Getöse.

Problematisch war nur, dass Leonard in ihrem Lebensstil eine Schwachstelle entdeckt hatte. Alles funktionierte wunderbar, solange es blieb, wie es war. Verlief alles in seinen Bahnen, zu Hause und auf der Arbeit, bot der Alltag Erfüllung, war es sicher möglich, sich mit ihrer besonderen Freundschaft eine Insel der Sanftheit zu erhalten. Doch sobald Veränderungen eintreten, sobald Mitmenschen sich zurückziehen oder ganz verschwinden, wie es unweigerlich geschieht, verschieben sich auf dem eigenen Kompass die Fixpunkte Nord, Süd, Ost und West. Man bleibt allein zurück und muss sich entscheiden, in die echte Welt einzutreten, mit allen damit verbundenen Risiken, oder sich von ihr fernhalten. Leonards Instinkt riet ihm zur Abschottung in einem sicheren Kokon. Aber so ein Kokon ist ein in sich geschlossener Raum. Alleinsein und Frieden sind nichts Besonderes mehr, wenn sie keinen Gegenpol haben. In einem hektischen – oder zumindest hektischeren – Alltag bietet die stille Reflexion dem Erleben einen Resonanzraum. Aber das Leben absichtlich vom Erleben abzukoppeln und sich vor seinen Realitäten zu verstecken, nein, das war nichts Besonderes. Das war einfach eine Form der Angst, die zur lebensbeschränkenden Einsamkeit führte, die immer weiter anwuchs, bis sie so groß war, dass sie die Haustür blockierte, Gespräche erstickte und sich wie eine Schallschutzscheibe vor die anderen schob. Davon abgesehen ging Leonard gerade auf, dass ihm der Rückzug von den anderen nicht einmal Frieden brachte. Je mehr er sich von ihnen distanzierte, desto unergründlicher und verwirrender erlebte er sie. Vor lauter Distanz verlor er den Blick auf das Gesamtbild. Wenn er nicht aufpasste, wäre er bald ein moralinsaurer, selbstgerechter Sonderling, wie dieser Mann mit dem eibekleckerten Pullover, der im Supermarkt Selbstgespräche führte. Er hatte sogar festgestellt, dass er Leuten weniger kritisch begegnete, wenn er sich auf sie einließ. Die Menschen waren nämlich gar nicht so schlecht. Jedenfalls nicht alle. Vielleicht lag darin gerade die Kunst: die richtigen Menschen zu finden, sie zu erkennen und zu wissen, wie man ihnen Wertschätzung entgegenbrachte, sobald man sie gefunden hatte.

Was jedoch seine Freundschaft zu Paul betraf, brachten ihn diese Erkenntnisse in die Zwickmühle. Er war nicht sicher, ob Paul die gleichen Sprünge gemacht hatte. Was, wenn Paul beschlossen hatte, einfach so weiterzumachen, Tag für Tag durch sein Leben zu schlappen, ohne sich darum zu scheren, dass das Universum schrumpfte? Der Gedanke, er könnte seinem Freund entwachsen, schmerzte Leonard ebenso wie die Vorstellung, dass sich ihre Freundschaft zu einer verkehrten Reise nach Jerusalem entwickeln könnte, der Letzte ohne Platz gewann den Preis: ein stetig schrumpfendes Leben im Rückzug.

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