Lenins Zug. Die Reise in die Revolution by Catherine Merridale
Autor:Catherine Merridale [Merridale, Catherine]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104033303
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
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»Weit und breit wurde leidenschaftlich geredet«, entsann sich Knox. »Man prägte ein neues Verb, ›mitingowat‹, an Meetings teilnehmen. Jemand mochte seinen Freund fragen, was er am Abend tun wolle, und die Antwort war oftmals: ›Ich werde ein bisschen an Meetings teilnehmen‹ (›ja nemnogo mitinguju‹).«[434] Allen lag daran, die Dinge auszudiskutieren; sie verspürten eine neue Verantwortung, einen Stolz auf ihren eigenen souveränen Staat. Portiers, Straßenfeger und Hofpersonal (auf Russisch »Lakaien« genannt) verlangten neue Berufsbezeichnungen, die ihren Status als freie Menschen widerspiegeln sollten. Die Achtung vor ihrer Würde war eine der ersten Bedingungen gewesen, welche die Petrograder Garnison in Befehl Nr. 1 niedergeschrieben hatte. Neue Bezeichnungen – von Genosse Gewehrschütze bis hin zu Stadtreinigungaufseher – ließen sich relativ leicht finden. Schwieriger war es in einer Zeit der nationalen Bedrohung und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs jedoch, den Weg nach vorn für die neue Republik zu entdecken. Vielleicht lag es an der Komplexität der Probleme, dass die Menschen unaufhörlich über Theorien oder über Banalitäten sprachen.
Abgesehen von Frieden und Brot gab es eines, wonach sich die Menschen am meisten sehnten: nach etwas Neuem, einem Abschied von den alten Sitten, den Lügen, der Regierung durch Fremde in teuren Anzügen. Die Februartage hatten die Hoffnung auf ungeahnte Möglichkeiten geweckt, und alle, von den ölbeschmierten Mechanikern in Wyborg bis hin zu den Bauern auf den üppigen Schwarzerdeböden, genossen einen Moment der Selbstbestimmung. Und sie irrten sich nicht, denn die Welt hatte sich für immer gewandelt. In Petrograd war es indes eine weitere Gruppe von Geschäftsleuten und Intellektuellen, wohlmeinend, doch fern vom realen Leben des Volkes, die rasch die Zügel in die Hand nahm. Knapp über acht Monate lang pflegten die Männer, die sich den Auswirkungen der größten Revolution der Welt widmeten, im Jahre 1917 die Manieren und das Vokabular einer vornehmen Regierung. Sie debattierten auf Französisch, in der Diplomatensprache, über Vertragsklauseln und trafen Absprachen hinter verschlossenen Türen. Sie handelten mit Zugeständnissen und verdrehten Worte. Im Grunde blieb ihnen nichts anderes übrig, denn was sie nachts nicht schlafen ließ, war das Schreckgespenst sozialer Unruhen oder gar der Anarchie.
Einige von ihnen, Überlebende des linken antizaristischen Untergrunds, kamen täglich in der Wohnung von Matwej Skobelew zusammen, in der sich Zereteli seit seiner Rückkehr in die Hauptstadt aufhielt. Nur wenige Exkom-Mitglieder wurden eingeladen. Suchanow (den Zereteli für »trocken, kalt und giftig« hielt) gehörte nicht dazu, und Bolschewiki wurden völlig ausgeschlossen. Diese kleine, überwiegend menschewistische Fraktion, die bald den Spitznamen Sternkammer erhielt, übernahm vor Ende März die Regie im Exkom.[435] Das heißt, sie legte die Tagesordnung fest und ersann eine Reihe einprägsamer Begriffe, doch da sich die Feuer der Revolution abkühlten, ließ sie nicht zu, dass die bürgerliche Regierung zurücktrat. Gelähmt durch die Furcht vor einem Wandel in die falsche Richtung, war die Gruppe auf den guten Willen von Männern wie Fürst Lwow angewiesen.
Die unmittelbaren Probleme waren, wie nicht überraschen konnte, die gleichen wie vor dem Februar, doch es gab keinen Zaren mehr, dem man die Schuld zuschieben konnte. Der Krieg (oder vielleicht die Frage des Friedens) blieb das umstrittenste Thema. Das vom Sowjet
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