Lebenslang by Schwindt Peter

Lebenslang by Schwindt Peter

Autor:Schwindt, Peter [Schwindt, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2012-08-08T22:00:00+00:00


Jetzt, wo man Julias Leiche gefunden hat und es ein Mord ist, hat meine Tochter es doch noch auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft. Wenn auch nur als kurze Notiz und nicht in die Schlagzeilen. Aber die Anteilnahme, die Astrid und mir entgegengebracht wird, ist überwältigend. Wenigstens klingelt niemand an der Tür, um sich bei uns darüber auszuheulen, wie schlimm diese Welt doch ist. Aber die Beileidskarten füllen mittlerweile einen Wäschetrog.

Zwar treiben sich noch einige Reporter im Ort herum, aber Nachbarn und Freunde tun alles, um ihnen die Arbeit so schwer wie möglich zu machen.

Schumacher hat uns ein Versprechen gegeben. Er hat geschworen, dass er alles tun wird, um denjenigen zu finden, der dies unserer Tochter angetan hat.

Ich habe Astrid nicht erzählt, was ich in der Gerichtsmedizin gesehen habe. So schrecklich der Anblick auch war, gleichzeitig hat mich eine seltsame Erleichterung ergriffen, als ich Julias toten Körper berührte. Hoffnung ist die Hölle. Das heißt jetzt nicht, dass mir die Gewissheit ihres Todes Frieden beschert hat. Aber die Angst um sie hat ein Ende gefunden.

Die Nächte verbringen wir immer noch zum größten Teil schlaflos. Astrid ist vollkommen verstummt. Den ganzen Tag liegt sie im Bett, weint, starrt vor sich hin und nickt ein, nur um kurz darauf wieder zu erwachen, weil sie sich in schrecklichen Bildern verliert, die ihre gequälte Phantasie hervorbringt. Ich weiß nicht, ob das, was sich in ihrem Kopf abspielt, schlimmer ist als das, was ich im Keller der Gerichtsmedizin gesehen habe. Es ist auch egal. Astrid geht durch die Hölle und ich mit ihr. Julias Zimmer haben wir noch immer nicht angetastet. Ich weiß nicht, ob wir die Tür nicht einfach abschließen und alles so lassen sollen, wie es ist. Bis ans Ende unserer Tage.

Astrid hat die Fotoalben aus dem Wohnzimmer geholt und blättert sie durch, immer und immer wieder. Das erste Bild, das wir von Julia haben, ist eine Polaroidaufnahme, die die Hebamme kurz nach der Geburt gemacht hat. Julia war kein hübsches Baby, aber es ist ein Bild, das sehr viel über uns sagt. Astrid hält Julia im Arm, ein rosa, zerknautsches Bündel, eingewickelt in eine Decke. Astrids Augen sind groß und rund, aber nicht vor Freude. Vielmehr sieht sie aus, als hätte sie hohes Fieber. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkt angestrengt. Ich sitze neben den beiden auf der Bettkante und habe meinen Arm um ihre Schulter gelegt, während Julia meinen kleinen Finger ergriffen hat. Sie drückt so fest zu, dass ihre winzigen Knöchel weiß hervorstehen. Damals zeichnete sich schon ab, dass Astrid diese postnatale Depression entwickelte, die sie für ein halbes Jahr fest im Griff behalten sollte.

Auch danach sollte das Verhältnis zu ihrer Tochter nie von dieser schwerelosen Liebe bestimmt sein, die man bei einer jungen Mutter fast schon selbstverständlich voraussetzt.

Diese Polaroidaufnahme, die ich in Händen halte, ist das einzige Bild, das ich betrachten kann, ohne dass dieses Entsetzen mich wieder schüttelt, das mich in der Gerichtsmedizin ergriffen hat und mich wahrscheinlich nie mehr loslassen wird.

Während Astrid Julia wohl mit diesen Fotos für sich am Leben erhalten will, muss ich einen anderen Weg gehen.



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