Lebenskrisen als Entwicklungschancen by Dahlke Ruediger

Autor:Dahlke, Ruediger [Dahlke, Ruediger]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-07-20T23:00:00+00:00

Rituale des Frauwerdens

Bei Frauen besteht kollektiv unter anderem deshalb weniger die Tendenz zu pervertierten Ersatzritualen, weil mit der Schwangerschaft und dem Akt der Geburt ein großes natürliches Ritual vorliegt, das, bewusst oder sogar unbewusst durchlebt, Erwachsenwerden im weiblichen Bereich sicherstellen kann, wenn auch nicht muss. Das führt nicht nur zu einer verhältnismäßig großen Zahl erwachsener Frauen, sondern auch dazu, dass sie ihren Töchtern und jungen Mädchen ganz allgemein mehr Raum und Anleitung geben können, was dieses Thema anbelangt. Dass viele Frauen nach einer Kaiserschnittentbindung ein weiteres Kind trotz der jetzt bestehenden Gefährdung unbedingt auf natürlichem Weg bekommen wollen, hat sicherlich mit der unbewussten Ahnung vom Mysterium der Geburt zu tun. Früher wurde dieser Aspekt noch ganz direkt angesprochen. Heute wird die Geburt vor allem unter technischen und äußerlichen Gesichtspunkten gesehen, und trotzdem wirkt das Ritual offenbar ziemlich unvermindert weiter.

Für Mädchen ist auch das Erlebnis des ersten Geschlechtsverkehrs oft noch eher eine Einweihungserfahrung als für Jungen. In »primitiven« Gesellschaften finden wir viele anschauliche Beispiele, wie dieser wesentliche Schritt ins Erwachsenenzeitalter, rituell begangen, zu einem Fest werden kann. Grundsätzlich wäre das heute natürlich immer noch möglich. Betrachtet man aber das »Balzverhalten« moderner Pubertierender, wird klar, dass ihre auf »Coolness« angelegten Ersatzrituale wenig seelische Tiefe vorsehen. Diese wird sogar als Zeichen von Schwäche ausgelegt und abgelehnt. So bleibt die moderne Situation unbefriedigend. Die fundamentalistischen Rückkehrversuche zu den Anfängen dürften hier ihre Wurzeln haben. So gibt es vor allem in den USA schon wieder Jugendbewegungen, die vorehelichen Sex ablehnen und bei denen die Jungfrau im anatomischen Sinn wieder salonfähig wird. In der normalen Großstadt müsste ein Mädchen nach der Pubertät diese Tatsache allerdings meist noch schamhaft verschweigen, wollte sie sich nicht unmöglich machen. Im Fundamentalismus liegt sicher keine Chance für seelisches Wachstum, dazu ist die ganze Bewegung zu entwicklungsfeindlich. Aber mehr Bewusstheit bezüglich der Sexualität würde große Möglichkeiten eröffnen. Von Natur aus hat der erste Geschlechtsverkehr bereits alles, was ein Ritual ausmacht: Es wird eine Grenze überschritten und eine Barriere durchstoßen, die marsische Kraft allen Anfangs tritt hinzu, und es fließt Blut. Unter Schmerzen öffnet sich ein neuer Erfahrungsbereich, der, kaum ist das Eis gebrochen, Freude und Lust gewähren kann. Auch wenn diese Erfahrung bewusst kaum noch als Passageritus gewürdigt wird, ist das natürliche Muster so stark, dass es offenbar für viele Mädchen – ähnlich wie spätere Geburten – den Charakter einer Einweihung behält.

Spezifisch weibliche Schwellenrituale sind wohl auch deshalb bei uns relativ unbekannt, weil dem männlichen Entwicklungsweg in der dokumentierten Geschichte die ungleich größere Bedeutung eingeräumt wurde. Speziell zu erwähnen wären vielleicht die Einführungsbälle ins Gesellschaftsleben für junge Mädchen aus besserem Haus. Bei Gelegenheiten wie etwa dem Chrysanthemenball oder dem Wiener Opernball werden diese »höheren Töchter« in die Gesellschaft eingeführt. Hier leben alte Muster weiter, denn die Mädchen werden damit ja erstmals auf dem Heiratsmarkt angeboten und für erwachsen erklärt. Die jungen Männer sind bei diesen Gelegenheiten eher Staffage, wobei darauf geachtet wird, dass sie etwas darstellen. Früher konnte man auf die Kadetten von Offiziersschulen zurückgreifen, heute ist es wohl etwas schwerer geworden, einigermaßen respektabel und erwachsen aussehende Männer aufzubieten.

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