Leben! by Nicole Dill

Leben! by Nicole Dill

Autor:Nicole Dill
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wörterseh Verlag
veröffentlicht: 2010-01-23T05:00:00+00:00


Im Licht

Die Strategien, um den Alltag besser zu bewältigen, zeigen bald Wirkung. Zusammen mit allen anderen Bemühungen funktionieren sie beinahe wie Zauberformeln, und ich stehe als Prinzessin in einem glitzernden Sternenregen, der mich als Wolke aus der Dunkelheit tragen wird. Ich freue mich über die kleinsten Fortschritte. Im Verlauf der Wochen integriere ich mich in den Klinikalltag und nehme an den angebotenen Freizeitaktivitäten teil. Den selbst gemeißelten Ring aus grünem Speckstein trage ich seither jeden Tag.

Einst lag mein Leben wie eine leere Leinwand vor mir. Ich weiß noch, wie ich als Zwanzigjährige dachte, ich schaffe ein schönes Werk. Mit lockeren Pinselstrichen wollte ich gestalten, leicht und luftig. Die negativen und bisher unbekannten Gefühle, die mir das Verbrechen aufgedrängt hat, der Hass, die Minderwertigkeit und die Bitterkeit, machten aus diesem Gemälde ein hässliches Werk. Nicht rosarot, nicht schieferschwarz, sondern orange und gelb leuchten die drei Bilder, die ich in Davos malte, und als Erinnerung an den Anfang meiner Genesung hängen sie auch heute in meiner Wohnung.

Schritt für Schritt geht es voran, und bald unternehme ich ausgedehnte Ausflüge in die Natur. In den weiter oben gelegenen Regionen, die ich später mit Wanderschuhen erobere, entdecke ich klein gewachsene und knorrig geformte Bäume, von Wind und Wetter in bizarre Schieflagen gedrängt. In einem Flussbett oder auf einem einsamen Abhang stehend zu einem Wachstum gezwungen, das ihrer Art widerspricht, erkämpfen sie sich einen Lebensraum und erscheinen in ihrer Eigenständigkeit sogar kraftvoller als die perfekten Exemplare im Unterland. Etwas verformt durch die zurückliegenden Ereignisse, werde auch ich mich erneut dem Licht zuwenden, so bin ich nun überzeugt. Bereits gelingt es mir, einige Minuten, dann eine Stunde und einmal sogar einen halben Tag nicht an die schrecklichen Geschehnisse zu denken. Ruhe und innerer Frieden kehren in diesen Momenten zurück: Sie sind mir mehr wert als alles andere.

Bald weiß ich, dass meine Intuition auch im Fall von Roli nicht komplett versagt hat, ich die negativen Signale aber leider ignorierte – und so traue ich meiner Menschenkenntnis wieder etwas mehr. Was nicht heißt, dass ich den Mitmenschen blind vertraue. Die psychische Angst überwinde ich auch im Verlaufe der Zeit nicht vollständig, und die physische Distanz bleibt mir ein Bedürfnis.

Macht und Ohnmacht, Dominanz und Erniedrigung erscheinen mir wesentliche Eigenschaften sämtlicher Beziehungen zu sein. Ich sehe das Ungleichgewicht überall. Das Bedrängen, das Ringen, das Abwehren. Das Großmachen, das Kleinmachen.

Noch immer fällt es mir schwer, im richtigen Moment auf die Bremse zu treten. Anstatt wie bisher einzuschätzen, abzuwägen, mich so umsichtig zu verhalten, dass mein Gegenüber keinen Anlass findet, um sich unangemessen zu verhalten, will ich künftig bei den anderen einwandfreies Verhalten voraussetzen und allfällige Grenzüberschreitungen bereits in den Anfängen sanktionieren. Wo genau soll man ansetzen? Wenn einen jemand anrempelt? Wenn sich jemand nicht bedankt? Wenn jemand von allem zu viel will? Bestimmenden und dominierenden Menschen gehe ich einfach aus dem Weg.

Der Rest ist ein weites Feld, und das Bedürfnis, neue Bekanntschaften gleich zu Beginn genau einzuschätzen, bleibt übergroß. Anders als am Anfang, als die Angst mich beherrschte, gelingen mir solche Beurteilungen



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.