Lateinamerika und die USA: Von der Kolonialzeit bis heute (Geschichte Kompakt) by Stefan Rinke
Autor:Stefan Rinke [Rinke, Stefan]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Geschichte
Herausgeber: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
veröffentlicht: 2012-05-31T22:00:00+00:00
Die lateinamerikanischen Staaten blieben angesichts der politischen Herausforderung und der darin steckenden Chance des Kriegs in Europa im Wesentlichen passiv. Sie fanden weder im Panamerikanismus US-amerikanischer Prägung noch durch die Kooperation untereinander zu einer gemeinsamen Stellungnahme zum Krieg oder zu Planungen für eine möglicherweise notwendige kollektive Verteidigung gegen Übergriffe auf die Neutralität und Souveränität im Verlauf der Kampfhandlungen. Dabei waren Ansätze zu einer Zusammenarbeit wie etwa in der Vermittlung des Konflikts zwischen den USA und Mexiko 1914 nach der Intervention in Veracruz durch Argentinien, Brasilien und Chile zunächst durchaus vorhanden. An der Konferenz von Niagara Falls zeigte sich das gewachsene völkerrechtliche Selbstbewusstsein einiger lateinamerikanischer Staaten. Eine Folge der Aktion war der zwischen den drei Staaten im Mai 1915 abgeschlossene so genannte ABC-Vertrag, der die obligatorische Streitschlichtung durch neutrale Kommissionen vorsah. Ziel des Abkommens war die Stärkung der Rechte der Neutralen, jedoch wurde es nicht ratifiziert und blieb daher nur eine Episode. Eine außenpolitische Eigenständigkeit oder gar eine Emanzipation vom Führungsanspruch der Vereinigten Staaten war so nicht zu erreichen.
Dass man aber in diesem Krieg mit neuartigen Dimensionen nicht einfach abseits stehen konnte, zeigte sich schon in den ersten Kriegsmonaten, als der Konflikt durch den Seekrieg bis vor die Küsten Amerikas getragen wurde. Die meisten lateinamerikanischen Staaten waren mit der Aufgabe überfordert, ihre Küsten effektiv zu überwachen und dafür zu sorgen, dass ihr Hoheitsgebiet nicht von den kriegführenden Mächten missbraucht wurde.
Mit ihrer Neutralität folgten die lateinamerikanischen Regierungen dem Vorbild der USA, die sich zunächst ebenfalls aus dem europäischen Krieg heraushalten wollten. Mit Blick auf Lateinamerika öffnete der Konflikt in Europa ungeahnte Möglichkeiten. Das strategische Interesse der USA an Lateinamerika war mit der Eröffnung des Panamakanals am 15. August 1914 noch gestiegen. Mit dem Argument des Schutzes des Kanals vor den Übergriffen der Kriegsgegner vertraten die Vereinigten Staaten ihren Anspruch als Hegemonialmacht der westlichen Hemisphäre nun offensiver.
Schon vor dem Krieg hatten die USA die Finanzkontrolle in vielen Staaten der Region übernommen und auch nicht mit der Entsendung von Marines gespart, wenn ihre Anweisungen dort nicht befolgt wurden, oder wenn die politische Instabilität in Staaten wie Nicaragua oder Kuba überhand nahm. So war der Übergang zur direkten militärischen Besetzung offiziell zum Schutz dieser Staaten nur ein kleiner Schritt. Trotz ihrer hohen moralischen Ansprüche war die Wilson-Administration in diesem Bereich nicht nur nicht zurückhaltender, sondern trat im Gegenteil noch aggressiver auf als viele ihrer Vorgänger.
So besetzten die Vereinigten Staaten während des Kriegs diverse Länder der Region und kauften 1917 die Virgin Islands von Dänemark. In Nicaragua waren US-Truppen schon seit 1912 stationiert, um einen Washington genehmen Präsidenten an die Macht zu bringen. Sie sollten bis 1925 bleiben. Auf der Dominikanischen Republik hatten die USA seit 1905 die Zollkontrolle inne, ohne für politische Stabilität sorgen zu können. 1916 entschloss man sich zu einer vollständigen militärischen Besatzung überzugehen, die acht Jahre andauern und viel Widerstand seitens der Dominikaner provozieren sollte. Bereits ein Jahr zuvor waren die Marines aufgrund politischer Unruhen auch auf Haiti gelandet. Dort übernahmen die USA vertraglich die Zollkontrolle und ließen sich unter Druck ein Interventionsrecht zusichern.
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