Kummer aller Art by Mariana Leky

Kummer aller Art by Mariana Leky

Autor:Mariana Leky [Leky, Mariana]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783832182618
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Die Brille der buckligen Verwandtschaft

Es ist immer erhellend, wenn jemand von außen einen Blick auf hartgesottene Familienlegenden wirft. Letztes Jahr habe ich meinen Freund Kai mit zu einem Familienfest genommen. Kai ist jemand von sehr weit außen, nämlich aus Sydney. Auf dem Weg zum Fest erzählte ich ihm, wer in meiner erweiterten Ursprungsfamilie als was gilt: Onkel Udo als extrem klug, Tante Lucy als außerordentlich witzig, und Onkel Ulrich gilt als maßlos schön.

Kai unterhielt sich blendend mit meiner Verwandtschaft, und hinterher sagte er: »Ehrlich gesagt: So klug fand ich Onkel Udo gar nicht, eher seine Frau.« Er sagte: »Tante Lucy versemmelt ziemlich oft Pointen«, und dann fragte er auch noch: »Wo genau ist Onkel Ulrich eigentlich maßlos schön? Er ist sehr nett – aber schön, also, ich weiß ja nicht.« All das war nicht von der Hand zu weisen, und mir fiel mal wieder auf, dass mir bereits in der Kindheit die Brille angepasst wurde, durch die ich meine Familie sehe, so, wie sie angeblich ist und angeblich immer sein wird.

Nun ist meine Großtante Traudl gestorben. Ich kannte Traudl kaum und kann mich nicht erinnern, mich je ausführlich mit ihr unterhalten zu haben. Sie hat nie viel gesagt auf Großfamilienzusammenkünften, sie hörte zu, was die anderen erzählten. Ich erinnere mich an einen Satz, den sie ab und zu in die Unterhaltungen warf; immer, wenn jemand eine Prognose zu irgendwas abgab, sagte Tante Traudl: »Man weiß nie.«

Sie sagte das, wenn Onkel Ulrich prognostizierte, dass sein Sohn nie und nimmer das Abitur schaffen würde. Wenn es hieß, dass Onkel Hanno sich auf gar keinen Fall von seinem Schlaganfall erholen werde. Als Onkel Bernd mutmaßte, dass Tante Anna nach dem Tod ihres Mannes auf immer allein bleiben werde.

Tante Traudl, das wurde auf ihrer Beerdigung wieder und wieder gesagt, war »die unglückliche Traudl«. Unglücklich deshalb, weil sie angeblich eine ebenso große wie kurze Liebe nie verwunden hatte. Jeder in meiner Familie kennt die Geschichte: Als junge Frau tanzte Traudl auf einem Ball mit einem Mann namens Otto – und es war, weithin sichtbar, für beide die große Liebe auf den ersten Blick. »Ich liebe dich«, hatte Otto nach der durchtanzten Nacht zu Traudl gesagt, und dann war er verschwunden – so schnell heraus aus Traudls Leben, wie er hereingetanzt war. Kurz wurde vermutet, dass Otto vielleicht verstorben war, überfahren auf dem Weg nach Hause, denn nach dieser Nacht hätte mutmaßlich allein der Tod Otto von Traudl fernhalten können. Aber Jahre später hat man Otto in Frankreich gesichtet, Onkel Ulrich glaubte jedenfalls, ihn dort gesehen zu haben. Als er Traudl davon erzählte, sagte sie einen Satz, der noch maßloser schöner war als Onkel Ulrich. Sie sagte: »Dann hat Otto dort wohl etwas zu erledigen.«

Traudl war ihr Leben lang allein geblieben und Lehrerin geworden, und im Alter hatte sie in ihrem Garten eine Auffangstation für verletzte Krähen unterhalten.

Es regnet stark, als ich nach Traudls Beerdigung im Auto sitze, die Scheibenwischer wedeln hin und her. Mein Freund Kai ruft aus Sydney an. »Wer war denn Tante Traudl?«, fragt er.



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