Kritik der verstehenden Vernunft by Vittorio Hösle
Autor:Vittorio Hösle
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie: Allgemeines, Nachschlagewerke
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2018-05-23T16:00:00+00:00
1.3.1.Transzendentale Ästhetik der Hermeneutik: Was wahrgenommen werden muß, damit Verstehen möglich ist
Ausgangspunkt der hier vorgelegten Theorie ist die Annahme, daß sowohl die verstehenden als auch die zu verstehenden Wesen erstens einen Leib haben und zweitens einander nur über die physische Äußerung mentaler Prozesse verstehen können. Ich halte weder die erste noch die zweite Annahme für analytisch wahr; denn ich kann mir erstens körperlose Geister vorstellen (siehe oben S. 58), und ich kenne zweitens kein Argument gegen die Möglichkeit telepathischer Kommunikation zwischen Geistwesen mit Körpern. (Das gilt a fortiori für Kommunikation zwischen körperlosen Geistwesen. Diese könnten etwa durch einen reinen Willensakt bei anderen Geistwesen anfragen, ob sie für Kommunikation zur Verfügung stehen, da völlige Transparenz des eigenen mentalen Lebens für jeden anderen kaum wünschenswert sein kann.) Doch sind Vorstellungskraft und mangelnde Vertrautheit mit Gegenargumenten kein positiver Beweis für die Möglichkeit einer Existenz. Wie auch immer es damit bestellt sein mag, ich abstrahiere hier völlig von dieser Möglichkeit und lege den in unserer Welt geltenden Normalfall zugrunde, daß Fremdseelisches nur durch den physischen Ausdruck zugänglich wird. Die Komplexität dieser Kommunikationsform ist axiologisch faszinierend.
Aus dem Gesagten folgt, daß Verstehen nur möglich ist, wenn es ein Wahrnehmen physischer Objekte gibt – denn nur wenn ich den Ausdruck, also ein physisches Objekt, erkenne, habe ich eine Chance, zu Fremdseelischem vorzustoßen. In Wahrheit gehören die physischen Objekte, ohne deren Wahrnehmung Verstehen gar nicht beginnen könnte, zu drei unterschiedlichen Klassen. Nur eine ist der Gegenstand perzeptiven Verstehens; aber zu dem, was an perzeptivem Verstehen mehr ist als bloße Wahrnehmung, könnte es gar nicht kommen, wenn nicht die beiden anderen Klassen ebenfalls Gegenstände der Wahrnehmung wären. Damit ist nicht gesagt, daß jede Wahrnehmung äußerer Gegenstände zur transzendentalen Ästhetik gehört. Denn wie wir noch sehen werden, ist die Wahrnehmung der bezeichneten äußeren Gegenstände notwendige Voraussetzung der ersten Zuschreibungen propositionaler Einstellungen im Falle radikaler Interpretation, aber diese sind erst in der transzendentalen Logik der Hermeneutik thematisch.
Einerseits werden wir in Kap. 1.3.3. noch sehen, daß die Voraussetzung, der andere habe die Intention, die eigenen Gedanken mitzuteilen, das Verstehen bedeutend erleichtert. Andererseits wird das zu Verstehende dadurch komplexer; denn diese Intention ist ein volitiver Akt, der den Akt des bloßen Denkens transzendiert; das erste Interpretandum muß daher eine einfachere Struktur sein. Was könnte es sein? In Kap. 1.2.2.4.1. haben wir den Unterschied natürlicher von nicht-natürlichen Zeichen schon diskutiert. Aus nicht-natürlichen Zeichen auf eine physische Krankheit zu schließen hat nichts mit Verstehensprozessen zu tun – wohl aber aus bestimmten Schreien auf Schmerzen, selbst wenn diese Schreie nicht zu dem Zwecke der Mitteilung erfolgen. Wir wissen ferner aus Kap. 1.2.2.4.2., daß der Austausch von Signalen unter Organismen oft unwillkürlich erfolgt und ohne jede ausdrückliche Intention der Mitteilung. Sofern jener Austausch ohne jedes mentale Leben stattfindet, ist er ebensowenig Gegenstand des Verstehens – wohl aber, wenn ein mentaler Zustand bei dem Sich-Äußernden erschlossen werden kann, und zwar unabhängig davon, ob seine normalen Interaktionspartner ihn erschließen oder nicht. Es mag durchaus sein, daß erst Menschen plausible Theorien über das mentale Leben der Angehörigen vieler anderer Arten entwickeln können, weil nur sie sich diese Frage stellen können.
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