Kolyma by Tom Rob Smith

Kolyma by Tom Rob Smith

Autor:Tom Rob Smith [Smith, Tom Rob]
Die sprache: nld
Format: epub
ISBN: 9789049800413
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2010-09-14T22:00:00+00:00


Kolyma

Dreißig Kilometer nördlich von Magadan,

siebzehn Kilometer südlich vom Gulag 57

10. April

Die Wolkendecke hatte sich auf tausend Meter abgesenkt und behinderte die Sicht. Silbrige Tröpfchen hingen in der Luft, halb Nebel, halb Eis und halb Zauberei. Nur meterweise tauchte die eintönige Landstraße daraus hervor wie ein grauer, holpriger Teppich, der sich vor ihnen entrollte. Der Lastwagen kam nur langsam voran. Entnervt von dieser zusätzlichen Verzögerung sah Timur auf die Uhr, er hatte vergessen, dass sie ja gar nicht mehr funktionierte. Im Sturm war sie kaputtgegangen und umschloss nun nutzlos sein Handgelenk, das Glas zersprungen und das Uhrwerk vom Salzwasser lahmgelegt. Er fragte sich, ob sie wohl sehr beschädigt war. Sein Vater hatte behauptet, sie sei ein Familienerbstück. Timur vermutete, dass das gelogen war, denn sein Vater war ein stolzer Mann gewesen und hatte wahrscheinlich nur darüber hinwegtäuschen wollen, dass er seinem Sohn zum achtzehnten Geburtstag lediglich eine zerbeulte Uhr aus zweiter Hand schenken konnte. Aber gerade wegen und nicht trotz dieser Lüge war die Uhr zu Timurs größtem Schatz geworden. Wenn sein ältester Sohn achtzehn wurde, wollte Timur sie ihm schenken, allerdings hatte er sich noch nicht entschieden, ob er ihm die sentimentale Bedeutung der Lüge erklären oder einfach nur den Herkunftsmythos der Uhr weitertragen sollte.

Trotz der Verzögerung war Timur sehr erleichtert, dass er es immerhin hatte verhindern können, über das Ochotskische Meer zurück nach Buchta Nachodka geschickt zu werden. Gestern Abend waren sie an Bord der Stary Bolschewik gewesen, die zum Auslaufen bereit war. Der Frachtraum war repariert und das Wasser abgepumpt worden, dann hatte man die gerade entlassenen Gefangenen eingeladen, auf deren Gesichtern immer noch die Ratlosigkeit über ihre Freiheit gestanden hatte. Ohne einen Ausweg aus seiner misslichen Lage zu sehen, hatte Timur wie gelähmt an Deck gestanden und beobachtet, wie die Hafenmannschaft die Leinen losgemacht hatte. In wenigen Minuten würde das Schiff in See stechen, und er hätte keine Chance, vor Ablauf von Wochen den Gulag 57 zu erreichen.

Völlig verzweifelt war er zur Kapitänsbrücke gelaufen in der Hoffnung, dass ihm angesichts der dringenden Umstände schon eine plausible Geschichte einfallen würde. Als der Kapitän sich zu ihm umgedreht hatte, war es aus ihm herausgeplatzt: »Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss.«

Aber was? Timur war kein guter Lügner, und jetzt erinnerte er sich an die alte Weisheit, immer so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich bin eigentlich gar kein Wärter. Ich arbeite für den MVD. Man hat mich geschickt, um zu überprüfen, ob die nach Chruschtschows Rede beschlossenen Änderungen im System auch tatsächlich umgesetzt werden. Davon, wie dieses Schiff geführt wird, habe ich nun ja schon genug mitbekommen.«

Bei der Erwähnung der Rede erblasste der Kapitän. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Ich fürchte, der Inhalt meines Berichts ist geheim.«

»Aber die Dinge, die auf dem Hinweg passiert sind, waren doch nicht meine Schuld. Erwähnen Sie das bitte, falls Sie einen Bericht darüber schreiben, wieso ich die Kontrolle über das Schiff verloren habe.«

Timur staunte nicht schlecht, welche Macht ihm seine Ausrede plötzlich verliehen hatte.

Der Kapitän war ganz dicht herangekommen und sprach mit flehentlicher Stimme weiter.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.