Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition) by Schramm Julia

Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition) by Schramm Julia

Autor:Schramm, Julia [Schramm, Julia]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Herausgeber: Random House DE
veröffentlicht: 2012-09-16T22:00:00+00:00


Sich am Weltgeschehen verschlucken

tl;dr: Das Internet bringt die ganze Welt in mein Wohnzimmer, Elend und Ungerechtigkeit inklusive. Bin ich dafür verantwortlich, wenn im Nahen Osten gemordet wird oder ob es in der äußersten Mongolei Demokratie gibt? Niemand kann überall gleichzeitig sein, und es ist in Ordnung, mit der politischen Arbeit im eigenen Land zu beginnen. Aber ich kann zumindest für die Freiheit und Anonymität des Netzes eintreten. Für alle, überall.

Revolution. Es ist so weit. Die News-Ticker flippen aus. Revolution im Nahen Osten. Erst Tunesien, dann Ägypten, jetzt Juntos Heimat. Mortensen ist seit Stunden damit beschäftigt, die Internetversorgung für die Demokratisierungsbewegung sicherzustellen, denn Juntos Regierung sabotiert das Netz.

Der Bildschirmrand flackert, das Autorisierungsfeld öffnet sich. Ach, SPAM, denke ich und klicke aus Langeweile auf das Profil. Normalerweise steht da etwas in kyrillischen Buchstaben, oftmals in Kombination mit lateinischen Buchstabenfolgen wie sexyGirl1993. Diesmal nicht. Diesmal ist es Junto. Mein Atem stockt. Er hat seinen Rechner und alle Accounts neu aufgesetzt. Mortensens Plan ist also aufgegangen. Ich hatte seit dem letzten Chat nichts mehr gehört, nur Mortensen hatte berichtet, dass es Junto gut gehe. Soweit das überhaupt möglich ist. Denn das Internet spricht anderes, von Mord und Folter, von Gewalt und Verhaftungen.

Junto schreibt: In diesen Zeiten sind wir alle Familie. Menschen. Vergesst das nicht. Das Blut unschuldiger Menschen. Unser Blut. Die Tränen der Eltern, der Freunde und Liebsten. Vergesst das nicht. Vergesst unsere Geschichten nicht. Bitte.

Erstarrt blicke ich auf die Zeilen. Was kann ich tun? Kann ich etwas tun? Während mir Tränen die Wangen herunterlaufen, weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Was soll ich ihm sagen? Wie kann ich ihm Mut machen? Ich sitze Tausende Kilometer entfernt, habe keinen Einfluss auf die politischen oder gar militärischen Entscheidungen des Westens. Soll der Westen überhaupt eingreifen? Was in Juntos Heimat passiert, grenzt an staatlichen Massenmord. Oder ist einer. Ich weiß es nicht. Ich spüre, dass mich das etwas angeht, und habe Angst um Junto – und doch stehe ich in seltsamer Distanz zu dem, was er schreibt. Einerseits bin ich froh, von ihm zu hören, andererseits fühle ich mich so schlecht und hilflos, dass ich einen Moment lang wütend auf ihn werde. Wieso setzt er mich dem aus? Oder vielmehr das Internet. Ich sitze ohnmächtig vor dem Bildschirm, bin mitten im Geschehen, ohne etwas tun zu können.

Junto schreibt weiter über seine Hoffnung und den Willen, für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Er glaubt daran, dass wir eine gerechte und freie Welt schaffen können. Er spricht davon, dass er den Sieg für die gute Sache vielleicht nicht mehr erleben wird. Ich beginne zu schluchzen. Zum Glück sieht mich Junto so nicht. Er würde versuchen, mich zu trösten. Das wäre mir peinlich. So kann ich ihm sagen, dass er für das Richtige kämpft. Und dass ich ihn bewundere. Von meinem Schreibtisch aus kann ich ihn in seinem Mut bestärken, den ich selbst kaum hätte.

Traurig und aggressiv klappe ich den Rechner zu. Vor meinem geistigen Auge erscheinen Fernsehbilder von verhungernden Kindern, die mit großen Augen und aufgeblähten Bäuchen in die Kamera blicken.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.